Freitag, 15. Mai 2015

Braun war die Hoffnung

Als hätten sie nur darauf gewartet: 1938 zogen österreichische Architekten ihre größenwahnsinnigen Pläne für den Umbau Wiens aus der Schublade. Eine Ausstellung räumt mit dem Opfermythos auf .
Sie sind die größte Hinterlassenschaft der NS-Zeit in Österreich: die sechs Wiener Flaktürme des Architekten Friedrich Tamms. Zählen sie doch zum Authentischsten und Martialischsten, was von der NS-Architektur überliefert ist. Mehr als selbst noch die Regierungs- und Prestigebauten des Dritten Reiches verkörpern sie, was der Wesenskern der Epoche war. In ihnen kommen Symbolik und Materialität, Form und Inhalt, Funktion und Erscheinungsbild wie in keinem anderen Bautyp dieser Zeit zur Deckung. In der Wiener Ausstellung "Perle des Reiches" gehören die Hinweise auf sie zu den anschaulichsten Dokumenten für das, was hier – so der Anspruch – "erstmals in einer umfassenden Ausstellung" am Beispiel von Österreichs Hauptstadt gezeigt werden soll: dass nämlich Architektur, Stadt- und Raumplanung vom NS-Staat "als Machtinstrumente für monumentale Selbstdarstellungen vereinnahmt und ihre Protagonisten zu 'Verbündeten' eines totalitären Systems" wurden.
Dass die Ausstellung da nur einer Lesart folgt, die Joseph Goebbels selbst wenige Monate nach dem "Anschluss" Österreichs bei der Eröffnung der 2. deutschen Architektur- und Kunsthandwerkausstellung in  Münchenausgegeben hatte, teilt sie mit unzähligen Versuchen einer "Aufarbeitung": "Es ist ein geradezu monumentales Programm", so Goebbels. "Die aufstrebende Weltmacht des Reiches bekommt ihr monumentales architektonisches Gesicht. Die Durchführung dieses monumentalen Programms ist dazu bestimmt, auf Jahrhunderte weiterzuwirken. Die architektonische Umgestaltung der Städte soll den Ruhm der nationalsozialistischen Epoche in die fernste Zukunft weitertragen." Das war das vermessene Versprechen.
Ein wenig vermessen klingt freilich auch der Anspruch der Kuratorinnen Ingrid Holzschuh und Monika Platzer, mit ihrer Ausstellung faktisch Neuland zu betreten. Seit 1998 liegt die Monografie ihres Landsmannes Helmut Weihsmann "Bauen unterm Hakenkreuz" vor, in der der "Ostmark" ein eigener Abschnitt mit Beleuchtung der wichtigsten Städte und mit gründlich recherchierten Objektlisten gewidmet ist. Zudem hat Ingrid Holzschuh selbst erst vor vier Jahren eine eigene Untersuchung über "Wiener Stadtplanung im Nationalsozialismus" veröffentlicht, deren Anschaulichkeit und Übersichtlichkeit sogar die gegenwärtige Ausstellung übertrifft. Neu ist die Ausweitung der Recherche auf die "imperiale Raumpolitik" sowie das Nachwirken der NS-Planungen auf die Nachkriegszeit.
Aber was war wirklich geplant in Wien? Angefangen hatte alles mit Hitlers Ankündigung vom 9. April 1938: "Diese Stadt ist in meinen Augen eine Perle! Ich werde sie in jene Fassung bringen, die dieser Perle würdig ist, und sie der Obhut des ganzen Deutschen Reiches, der ganzen Deutschen Nation anvertrauen." Minutiös legt die Ausstellung anhand von Dokumenten vornehmlich aus dem Archiv des Stadtplaners Klaus Steiner dar, wie diese Zielsetzung zunächst geopolitisch untermauert werden sollte: Die neue Gauhauptstadt Wien war ausersehen, zu einem "Hamburg des Südostens" und einem zweiten deutschen "Tor zur Welt" ausgestaltet zu werden.
Die Wege zu diesen proklamierten Zielen freilich bleiben nebulös. Wohl sollten in Wien die administrativen, die Wirtschafts- und die Kulturbeziehungen zu den Balkanländern gebündelt werden, doch außer umfangreichen Verkehrsplanungen mit Autobahnanschlüssen, zwei neuen Zentralbahnhöfen, Hafenanlagen und einem "Weltflughafen" lassen sich konkrete Schritte nicht erkennen. Unklar erscheint auch das Verhältnis, das der zweitgrößten Stadt im Reich zu ihren Konkurrenten zugedacht war.
Was die architektonisch-städtebauliche Ausformung der Wiener Visionen betraf, so gedieh davon nichts zur Reife außer Funktionsbauten, Kasernen und einigen Tausend Wohnungen. Dabei war die Stadt durch die verwandtschaftlichen Beziehungen des Gauleiters Baldur von Schirach zu Hanns Dustmann, einem Günstlingsarchitekten Albert Speers, besonders privilegiert, sich mit Großplanungen bis in die Reichsführung Aufmerksamkeit zu verschaffen. Tatsächlich aber kam es zu Rangeleien und zerfleischenden Rivalitäten zwischen selbst ernannten Planern, dem Wiener Stadtplanungsamt und den Berliner Instanzen, sodass zwar ein Riesenprojekt nach dem andern aus der Taufe gehoben, aber nicht ein einziges realisiert wurde. Schuld daran war offenbar nicht zuletzt die ambivalente Haltung Hitlers. Trotz aller Beteuerungen, dass für ihn das architektonische Juwel, die Wiener Ringstraße, ein "Wunder aus Tausendundeiner Nacht" sei, zog er der K.-u.-k.-Metropole das oberösterreichische Linz, die Stadt seiner Jugend, vor, aus der er ein "deutsches Budapest" beiderseits der Donau zu machen versprach.
Das hinderte Scharen von Architekten nicht daran, sich eigenmächtig in Entwürfe zu stürzen. Zuerst hatte sich besonders der Berliner Franz Pöcher hervorgetan, der den "Anschluss" nicht abwarten konnte und schon 1937/38 mit Achsenplänen, einer Hochstraße bis auf den Kahlenberg nach dem Vorbild römischer Aquädukte und einer 330 Meter hohen Gauhalle nach dem Muster von Speers "Großer Halle" in Berlin herausrückte, die wohl sogar bei Speer entnervtes Kopfschütteln auslösten.
Aber dieses Vorbild scheint den Maßstab für alle folgenden Planungen vorgegeben zu haben. Riesige Gauforen, denen ganze Quartiere im 2. und 20. Bezirk weichen sollten, die Vollendung der Ringstraße und Achsensysteme über die Donau hinweg, Sportanlagen auf einer Donauinsel, als sollten Olympische Spiele in die Stadt geholt werden, ein Triumphbogen, ein Nord- und ein Südbahnhof, ebenfalls nach Berliner Vorbild, und natürlich immer neue Gauhallen ließen einen Zukunftsprospekt entstehen, nach dem die bestehende Stadt durch neue Schwerpunktsetzungen völlig aus dem Gleichgewicht gebracht worden wäre. Hitler soll nichts davon akzeptiert, sondern säuerlich geäußert haben, Wien sei eigentlich schön genug, da müsse man nicht viel ändern.
Umso mehr stellt sich die Frage (die in der Ausstellung ausgespart wird), was es gewesen sein kann, das die Architekten eines künftigen Wien zu derart monströsen Projekten verleitete? Als hätten die alle Maßstäbe sprengenden Planungen jahrzehntelang in Schubläden gelegen und nur darauf gewartet, veröffentlicht zu werden, zückten die Planer ihre detailliert ausgearbeiteten Reißbrettentwürfe fast gleichzeitig wie auf Kommando aus der Tasche. An Speer und Hitler vorbei entfaltete sich ein Überbietungswettbewerb, als ginge ein Jahrhunderttraum in Erfüllung. Von Beklemmung durch den "Anschluss" keine Spur. Mit den Opfermythen Österreichs lässt sich das nicht in Einklang bringen. Die maßstabslose Größe, die Idee von Achsen, riesigen Foren, überkuppelten Versammlungshäusern wie Tempeln und gewaltigen Anlagen zur Bündelung des Verkehrs – sie waren in den Köpfen vorhanden und mussten weder diktiert noch eingeübt werden.
Schon 1985 hat der Bauhistoriker Hartmut Frank in der großen Grundsatzpublikation "Faschistische Architekturen" davor gewarnt, den Nazis und ihrer Legende, es gäbe eine faschistische Architektur, allzu leichtgläubig auf den Leim zu gehen. "Die wenigen Bauten", so legte er dar, "stehen mit Sicherheit nicht außerhalb des Kontinuums der Architekturentwicklung dieses Jahrhunderts." Dass dies auch für die Radikalität der Umformung gilt, die in den weder von Hitler noch von Speer autorisierten Wiener Projekten zum Ausdruck kommt, beweist die Wiener Ausstellung auf schlagende Weise. Ist es wirklich so anstößig, wenn dieses "technokratisch-modernistische Leitbild der NS-Zeit für Wien" in Dutzenden Planungsvarianten bis hin zum U-Bahn- und Autobahnbau bis heute fortlebt? Der Enthüllungston vieler Nachkriegspublikationen (und auch des Wiener Katalogs) klingt angesichts dieser Selbstverständlichkeit ziemlich aufgesetzt. Das "geradezu monumentale Programm", so hatte Goebbels in seiner Münchner Rede über die NS-Baupolitik vom Dezember 1938 in einem grammatisch verkorksten Satz erklärt, sei "im Gegensatz zur Vergangenheit nicht dazu bestimmt, als Modelle und Projekte in den Architekturbüros zu vermodern und zu verkommen".
Die Geschichte hat dafür gesorgt, dass genau das den Wiener Monumentalplanungen widerfahren ist. Während der vom Reichspropagandachef beschworene "Siegeszug der Technik" und der "Zweckmäßigkeit" unbeschadet weiterging, sind von ihnen nur die Flaktürme geblieben – Festungsbauwerke, die fremd und funktionslos wie die Pyramiden und Götterstatuen einer vor tausend Jahren untergegangenen Epoche in der Wiener Stadtlandschaft stehen. Nur an ihnen wurde auch noch 1944 gebaut, nur ihnen ist ironischerweise die Auszeichnung zuteil geworden, den von Hitlers Minister den Nachgeborenen in Aussicht gestellten "Ruhm der nationalsozialistischen Epoche in die fernste Zukunft weiterzutragen". Darin liegt der dunkle Doppelsinn aller Symbolik, dass sie eben nicht nur einer Idee der Tagespolitik, sondern dem Urteil von Jahrhunderten standhalten muss.


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