Nach
dem Holocaust war das einst blühende jüdische Wiener Leben 1945
beinahe ausgelöscht. Rund 66.000 Juden wurden in Österreich
ermordet, nur wenige überlebten und blieben in Wien. Sie lebten
unauffällig und zurückgezogen - stets bereit, die Koffer zu nehmen
und nach Israel zu gehen. Doch die jüdische Kultusgemeinde hat sich
wieder aufgebaut und in Wien wieder eine Heimat.
JÜDISCHE
IDENTITÄT13.05.2015
Zehn
Jahre lang begab sich die Politologin Susanne Cohen-Weisz von der
Hebräischen Universität Israel auf die Suche nach der jüdischen
Identität in der Wiener Nachkriegsgeschichte. In einem Interview mit
science.ORF.at beschreibt sie den langen Weg zurück in die
Normalität.
Susanne
Cohen-Weisz ist
Politologin und forscht an der Hebräischen Universität Jerusalem.
2012 hat sie über das Thema "Like the Phoenix Rising from the
Ashes: Jewish Identity and Communal Reconstruction in Austria and
Germany" dissertiert.
Veranstaltungshinweis:
Susanne
Cohen-Weisz hat am Montag, 11.5.2015, im Rahmen des Symposiums „70
Jahre nach dem Ende der Shoah“ in
Wien einen Vortrag zum Thema "Jüdische Identität heute, 70
Jahre nach der Schoah" gehalten. Veranstaltet wurde das
Symposium von„Misrachi
Österreich“,
das VWI
- Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien und
dem DÖW
- Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes.
Ö1 Sendungshinweis
Durch
den Nationalsozialismus wurde das jüdische Leben in Wien beinahe zur
Gänze ausgelöscht. Wie haben sich die Überlebenden hier nach dem
Ende der Schoah gesehen?
In
den ersten Jahrzehnten danach war die Erinnerung an die Schoah einer
der Hauptelemente der jüdischen Gruppenidentität. Sie hatte große
Auswirkungen auf das Leben der Juden: Einerseits war es ein starkes
Bindungselement, da es sie aus den verschiedenen Ländern und
unterschiedlichen jüdischen religiösen Strömungen miteinander
verbunden hat. Auf der anderen Seite hat sie dies auch stark von der
nichtjüdischen Gesellschaft in Wien getrennt, weshalb es eine große
Kluft zwischen Juden und Nichtjuden gab. Die Juden in Wien lebten
zurückgezogen, blieben unter sich und versuchten, so konfliktfrei
wie möglich zu leben, um keinen neuen Antisemitismus zu schüren.
Das
zweite starke Element, worüber sich die in Wien gebliebenen Juden
identifizierten, war die Bindung an den neu gegründeten Staat
Israel. Zum ersten Mal hatten sie ein eigenes Heimatland, mit dem sie
sich nun identifizieren konnten.
Fühlten
sie sich auch mit Österreich verbunden?
Nein,
sie waren enttäuscht von den Menschen, von ihren ehemaligen
Nachbarn, waren misstrauisch und hatten nach wie vor Angst. Das Wien,
wie sie es kannten, gab es nicht mehr. Auch diejenigen, die in den
1950er nach der Auflassung der Lager für Displaced Persons noch nach
Wien kamen, fühlten sich hier fremd. Für sie war das Leben in Wien
eigentlich ein Kriegsunfall. Sie hatten nicht wirklich beschlossen,
hier zu bleiben und waren stets bereit auszuwandern - sie saßen
sozusagen immer auf gepackten Koffern.
Für
sie spielte Israel die zentrale Rolle, es wurde eine Art
Identitätsersatz. Es gab ihnen Rückhalt. Und auch die Idee, dass
sie morgen, übermorgen, in einem Jahr oder wann auch immer nach
Israel auswandern werden, machte es ihnen leichter, in Wien, in dem
Land der Mörder, zu leben.
Wie
hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert?
Die
Veränderung kam mit den Nachkriegsgenerationen, die die Schoah nur
aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern kannten. Vor allem
die erste Nachkriegsgeneration wollte nicht mehr, dass die Schoah im
Mittelpunkt ihrer jüdischen Identität steht. Sie hatten auch
begonnen, aus dem zwei Welten-Konstrukt ihrer Eltern auszubrechen –
wonach es eine jüdische und nichtjüdische Welt gab –, hatten
wieder nichtjüdische Freunde und fühlten sich als ein Teil der
Wiener Gesellschaft. Dieser Generationenwechsel bei den jüdischen
sowie bei nichtjüdischen Österreichern hat es letztlich möglich
gemacht, dass sich die jüdische Bevölkerung Stück für Stück
öffnen konnte.
Auf
der anderen Seite verlor auch Israel für die Nachkriegsgeneration an
Bedeutung, wenngleich ihnen die Existenz eines Heimatstaates ein
großes Selbstbewusstsein gab. Es war aber kein Identitätsersatz
mehr – sie versuchten vielmehr, ein jüdisches Leben in Wien
aufzubauen. Man merkte das auch daran, dass in den ersten Jahrzehnten
nach Kriegsende fast ausschließlich in Projekte in Israel und später
dann hauptsächlich in eine jüdische Infrastruktur in Wien
investiert wurde.
Wie
wohl fühlt sich die jüdische Bevölkerung heute in Österreich?
Sie
fühlen sich hier zu Hause und wollen hier bleiben. Zumindest solange
Österreich eine Demokratie bleibt und auch das jüdische Leben vor
Antisemitismus schützen kann.
Manche
aus der jüdischen Gemeinde meinen heute, dass sich die jüdische
Bevölkerung nicht mehr auf ihre Opferrolle reduzieren lassen sollte.
Kann man sagen, dass die erste Nachkriegsgeneration bereits damit
begonnen hat?
Mitte,
Ende der 70er Jahre haben sie begonnen, diese Opfer-Identifizierung
abzulegen. Sie wollten nicht mehr als diese passiven Opfer wie ihre
Eltern gesehen werden – sie haben begonnen, für die Interessen der
jüdischen Gemeinde in Wien zu kämpfen, um ein besseres Leben in
Wien zu ermöglichen. Sie haben auch das ausgesprochen, was ihre
Eltern sich vielleicht gedacht haben, aus Angst vor Antisemitismus
aber nicht sagten. Sie haben sich getraut, auch Österreich offen
dafür zu kritisieren, dass es sich als erstes Opfer Nazideutschlands
sah und keine Verantwortung übernehmen wollte.
Worin
besteht der Unterschied zu den Juden in der zweiten und dritten
Generation?
Für
die zweite Nachkriegsgeneration reichte es nicht mehr, nur die
Opferrolle abzuschütteln. Sie wollten, dass die Erinnerung an die
Schoah in der jüdischen Gruppenidentität keine so zentrale Position
einnimmt und dass es somit mehr Platz für positive Elemente gibt.
Man
sieht es auch daran, dass es in der zweiten und dritten
Nachkriegsgeneration wieder ein sehr großes Interesse an der
jüdischen Tradition und Religion gibt. Die Jungen wollen über das
Judentum lernen und es auch nach Außen tragen – sprich auch die
nichtjüdische Gesellschaft über das Judentum informieren und ihnen
zeigen, was das Judentum ist und wie die jüdische Kultur die Wiener
Kultur beeinflusst hat - in der Vergangenheit, aber auch in der
Gegenwart.
Welche
Bedeutung hat die Schoah für die jüdische Identität heute noch?
Die
Schoah spielt nach wie vor für Juden auf der ganzen Welt eine starke
Rolle - es geschieht auch immer noch, dass man sich bei älteren
Menschen insgeheim fragt, welche Rolle sie während des
Nationalsozialismus gespielt haben. Waren es Widerstandskämpfer, hat
derjenige Juden ermordet etc.? Das ist auch in der zweiten
Nachkriegsgeneration immer noch verankert.
Die
Schoah ist also immer noch ein Teil des Lebens. Es ist uns nach wie
vor wichtig, die Erinnerung aufrecht zu halten, auch damit so etwas
nicht noch einmal passiert. Aber es ist nicht mehr das
Hauptkriterium, worüber sich die jüdische Gesellschaft
identifiziert.
Interview:
Ruth Hutsteiner, science.ORF.at
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