Dienstag, 28. Oktober 2014

Delogierungen: "Die Mittelschicht ist immer mehr betroffen"


INTERVIEW | 
29. Oktober 2014, 07:17
Günstige Wohnungen sind knapp, sagt Renate Kitzman von der Fachstelle für Wohnungssicherung
STANDARD: Die Fachstelle für Wohnungssicherung der Volkshilfe berät Menschen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Wer ist das?
Kitzman: Es können alle Mieter sein, in Privat- wie in Genossenschaftswohnungen. Wir sind seit 1996 als Teil der Volkshilfe im Auftrag der Stadt Wien tätig.
STANDARD: Wie viele Fälle bearbeiten Sie pro Jahr?
Kitzman: 15 Mitarbeiter bieten jährlich mehr als 5000 Personen Unterstützung an. Der häufigste Grund, warum ein Verfahren beim Bezirksgericht eingebracht wird, ist und bleibt der Mietrückstand.
STANDARD: Wie erfahren Sie von geplanten Delogierungen?
Kitzman: Das österreichische Mietrecht beinhaltet zwei Paragrafen, die die Gerichte verpflichten, die Gemeinden über geplante Räumungstermine zu informieren. In Wien werden die betroffenen Personen brieflich kontaktiert: Ein Viertel meldet sich bei uns zurück.
STANDARD: Wie viele Räumungsklagen gab es in Wien 2013?
Kitzman: Von den Bezirksgerichten wurden wir über 972 eingebrachte Kündigungen, 16.271 Räumungsklagen, 87 Räumungsvergleiche, 104 Übergabeaufträge und 3058 Räumungstermine verständigt. Laut dem Bundesrechenzentrum wurden insgesamt 21.060 Räumungsverfahren oder Kündigungen in Wien eingebracht. Diese Zahl betrifft Privat-, Genossenschafts- und Gemeindewohnungen.
STANDARD: Wie sieht die gesellschaftliche Verteilung Ihrer Klienten aus?
Kitzman: 48,6 Prozent sind Frauen und 51,4 Prozent Männer. Rund 55 Prozent ist zwischen 30 und 59 Jahre alt. 56,4 Prozent sind österreichische Staatsbürger.
STANDARD: Welche gesellschaftlichen Gruppen sind besonders gefährdet?
Kitzman: Treffen kann es jeden, sobald weniger Haushaltseinkommen vorhanden ist. Für Alleinerzieherinnen ist es fatal, wenn die Unterhaltszahlungen ausbleiben, und es dauert, bis ein Unterhaltsvorschuss übers Bezirksgericht genehmigt wird. Unterhaltspflichtige Männer wiederum können, wenn sie nicht zahlen, auf 25 Prozent unter dem Existenzminimum gepfändet werden. Auch die Gruppe der Pensionisten ist in den vergangenen Jahren von sechs auf dreizehn Prozent unserer Klienten gestiegen.
STANDARD: Spiegelt sich hier die Wirtschaftskrise wider?

Kitzman: Steigende Arbeitslosigkeit, Schulden und Mieten, die überproportional zum Einkommen steigen: Irgendwann geht es sich nicht mehr aus. Das Argument "Suchen Sie sich doch einfach eine billigere Wohnung!" ist sinnlos, da es kaum noch günstige am Markt gibt. Auch die Mittelschicht ist betroffen. Das war zwar schon immer so, aber es wird schlimmer. (Julia Schilly, DER STANDARD, 29.10.2014)

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