Der
echte Wiener zieht nicht ins Arbeiterquartier. Doch immer mehr
Zugereiste schätzen seine Lage und den rauhen Charme. Wohnen in
Wien-Meidling bedeutet Vielfalt zwischen hip und traditionell.
Der
12. Wiener Gemeindebezirk, Meidling, ist für seinen Dialekt bekannt.
Legendär ist das „Meidlinger L“, ein im Gaumen gesprochener
Konsonant, den böhmische Dienstboten in die Hauptstadt gebracht
haben sollen. Hans Jörg Ulreich ist angetreten, dem urigen
Zungenschlag ein bauliches Denkmal zu setzen. Auf dem Markt hat er
drei Ladenlokale gekauft, die im rechten Winkel zueinander stehen.
Einheitlich lila getüncht, bilden sie das Meidlinger L im Herzen des
Viertels.
Mit
etwas Fortune könnte das knallige Ensemble zur Keimzelle für den
Strukturwandel in einem Quartier werden, in dem bis heute viele
Personen mit geringem Einkommen und niedriger Bildung leben:
Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Ausländer und
„Mindestpensionisten“, Rentner, die staatliche Zuschüsse
erhalten. Der Bauunternehmer Ulreich und seine Mitstreiter wollen
junge kaufkräftige Schichten nach Meidling holen und so das Bild
bunter und einladender machen. Auf dem Markt gelingt das schon.
In
einem der drei Flachbauten ist eine alternative Gaststätte
eingezogen, das „Purple Eat“. Hier kochen und servieren
abgelehnte Asylbewerber Speisen aus ihren Heimatländern. Alle sind
ehrenamtlich tätig, da sie keine Arbeitserlaubnis haben. Es gibt
keine festen Preise, keine Rechnung, nur Spenden und
Spendenquittungen. Heute kocht eine Afghanin Lachs mit Safranreis,
eine Chinesin serviert, ein Somalier räumt ab. Junge, hippe Leute
lieben so etwas, und deshalb sitzen sie vor dem „Purple Eat“ in
der Sonne, trinken Michkaffee, Johannisbeerschorle oder Bier aus
Flaschen und schaukeln Babys in Bugaboo-Kinderwagen.
Das Potential des „Grätzls“ früh erkannt
Das
alte Meidling schmaust gleich nebenan. In und vor der „Holzhütt’n“
sitzt eine deutlich ältere und beleibtere Kundschaft, es gibt
Käsekrainer, Gulasch, Bohnensuppe, Knödel mit Ei. Hier ist das
„Meidlinger L“ häufiger zu hören als im „Purple Eat“ oder
im „Milchbart“ in derselben Marktzeile. Das Szenecafé war 2012
der erste Vorbote der neuen Zeit und ist bis heute so etwas wie ihr
Impulsgeber geblieben. Eine der ehemaligen Aushilfskräfte im
Milchbart hat nebenan einen Feinkoststand eröffnet, „Anna am
Markt“.
Weil
er vom Potential des Standorts südwestlich der Innenstadt überzeugt
ist, hat Ulreich nicht nur in die Markthütten, sondern auch in vier
Mehrfamilienhäuser investiert. Ein unsaniertes Objekt nutzt er
karitativ: Im „Freunde-schützen-Haus“ kommen abgelehnte
Asylbewerber unter, wie sie im „Purple Eat“ arbeiten. Ulreich hat
das Potential des „Grätzls“, wie man einen Wiener Kiez nennt,
früh erkannt. Ihm fiel auf, dass es in Meidling wegen der günstigen
Mieten zwar viele Büros gab, dass aber kaum einer der Angestellten
hier wohnte. Nicht einmal zu Mittag wollten sie hier essen, sagt er.
„Es gab kein anständiges Lokal - und das bei 90.000 Einwohnern.“
Mit dem „Milchbart“, dem „Purple Eat“ und den anderen
Neugründungen hat sich das Angebot stark erweitert, in nur
anderthalb Jahren stieg die Zahl der Marktbesucher um 50 Prozent.
Einige der Neuankömmlinge begannen nach hochwertigen Wohnungen zu
suchen, doch das Angebot war gering.
Ulreich
erzählt, wie Peter Stöger, der Trainer des 1. FC Köln, in seinem
Wiener Heimatstadtteil Favoriten erfolglos eine geräumige
Dachgeschosswohnung suchte. Favoriten, mit fast 190.000 Einwohnern
der größte Bezirk der Hauptstadt, grenzt an Meidling und weist eine
ähnliche Sozialstruktur auf. „In solchen Gegenden gab es lange
keinen anspruchsvollen Wohnraum“, sagt Ulreich. Zumindest in
Ansätzen hat der Unternehmer das geändert, etwa in der
Spittelbreitengasse, ein paar Straßenzüge westlich vom Meidlinger
Markt. Hier errichtete Ulreich einen modernen Sechsgeschosser.
3500 bis 4000 Euro pro Quadratmeter
Zwischen
Gründerzeitfassaden und sozialem Wohnungsbau, einer Mischung, die
typisch ist für viele Wiener Quartiere, ist ein lichtes Eckhaus mit
innenliegenden Balkonen entstanden. Ulreich hat auf die
Energieeffizienz geachtet, es gibt eine Solaranlage und eine
Biomasseheizung. Sein Konzept beschreibt er als einfach: In B-Lagen
möchte er solche Käufer ansprechen, für die Wohnqualität und
verträgliche Preise wichtiger sind als das Image. In einem guten
Meidlinger Neubau oder einem „topsanierten Altbau“ koste der
Quadratmeter 3500 bis 4000 Euro, rechnet er vor. Das sind 700 Euro
weniger als in einer beliebten Gegend wie dem 6. Bezirk, „obgleich
es dort genauso aussieht“.
Die
Kunden des Burgenländers Ulreich kommen überwiegend von außerhalb
Wiens. „Der klassische Wiener würde nicht nach Meidling ziehen,
aber eine Menge andere Leute zieht der Schäbig-Schick an. Das ist
ein bisschen wie in Berlin“, sagt er. Der türkische Bäcker an der
Ecke hat bis Mitternacht geöffnet, nicht weit entfernt liegt das
„U4“, der bekannteste Tanzclub Österreichs. Hier sind schon
Prince, Kurt
Cobain,
Grace Jones, Rammstein und natürlich Falco aufgetreten.
Einer
der Eigentümer in der Spittelbreitengasse heißt Manfred Gollop. Der
Kärntner wohnt mit seiner kanadischen Frau und dem Sohn auf 115
Quadratmetern plus Terrasse im Dachgeschoss. „So etwas hätten wir
uns anderswo nicht leisten können“, sagt er. Die Anbindung sei
ideal mit zwei U-Bahnlinien und der Nähe zur Autobahn. Auch das
Freizeitangebot schätzt die junge Familie. „Wir gehen gern im Park
von Schönbrunn spazieren, da sind wir in einer Viertelstunde.“ Auf
der gegenüberliegenden Seite des Schlosses, im Westen, liegt der
Edelstadtteil Hietzing. „Da zu wohnen ist von der Lage her auch
nicht besser, wäre aber unbezahlbar“, sagt der
Informationstechniker.
Es
gibt „Grätzl“, die wie Meidling angefangen, den Aufschwung aber
schon durchlaufen haben. Sie alle sind rund um örtliche
Lebensmittelmärkte entstanden. Das bekannteste Beispiel ist der
Naschmarkt im 6. Bezirk, an dem viele angesagte Bars und Restaurants
liegen und einige der begehrtesten Wohnlagen der Stadt. Der
Karmelitermarkt im 2. Bezirk hat einen ähnlichen Boom erlebt,
desgleichen der Brunnen- und Yppenmarkt im 16. Bezirk. Dort, im
Arbeiterstadtteil Ottakring, waren die Bedingungen vergleichbar mit
Meidling, inzwischen aber sind die Immobilienpreise viel höher. „Den
Aufstieg hat niemand erwartet“, sagt Ulreich. Eher widerwillig
übernahm er vor zwölf Jahren am Brunnenmarkt ein Haus im Paket mit
einem zweiten. „Später hat man es mir aus den Händen gerissen.“
Riegel vor „Gentrifizierung“
Die
alteingesessenen Meidlinger beobachten die Aufwertung mit Wohlwollen,
denn ihr Stadtteil hat sich nicht immer zum Guten entwickelt. In der
Fußgängerzone mussten etliche Traditionsbetriebe schließen, etwa
der „Handschuhpeter“, wie sich Gabriele Mörk mit Bedauern
erinnert: „Heute wird da billiger Modeschmuck verkauft.“ Später,
als am Markt ein Einkaufszentrum eröffnete, gaben viele der kleinen
Stände auf, der Platz verödete und zog dunkle Gestalten an. „Das
war früher das mieseste Viertel des Bezirks“, sagt Mörk, die vor
53 Jahren in Meidling geboren wurde. „Heute ist die Gegend voll im
Kommen.“
Mörk,
deren Eltern in den fünfziger Jahren als burgenländische Kroaten
nach Meidling kamen, vertritt den Bezirk im Wiener Landtag und im
Gemeinderat. Die Politik habe schon viel erreicht, indem sie für
eine bessere Strom- und Wasserversorgung gesorgt und am Markt neue
Toiletten und eine Abfallpresse installiert habe, wirbt sie. Zudem
helfe die Stadt bei Sanierungen und Krediten für Wohnungskäufe.
„Jetzt kommen die interessanten Lokale und die privaten
Bauinvestoren, so soll es sein.“
Dass
die einheimische Bevölkerung verdrängt werden könnte und dass die
Mieten stark steigen, befürchtet Mörk nicht. Dieser Art von
„Gentrifizierung“ schiebe das österreichische Mietrecht, das
Bestandsmieten begrenzt, einen Riegel vor. Aber zeigen nicht die
Beispiele am Nasch- und am Brunnenmarkt, dass die Veränderungen auch
Gefahren für die Authentizität bringen können? „Eins ist klar“,
sagt die Abgeordnete nach kurzem Nachdenken, „so schickimicki wie
da wollen wir nicht werden.“
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