Wiens
Parteien rüsten sich für die Wien-Wahl im Herbst. Ein zentrales
Wahlkampfthema zeichnet sich schon jetzt ab: Wohnen. Insbesondere der
Wiener Gemeindebau wird von den Parteien ins Visier genommen. Die
regierende Rot-Grün-Koalition verspricht die Errichtung neuer
Gemeindebauten in den kommenden Jahren und die Schaffung günstiger
Wohnungen. Doch auch andere Wahlkampfthemen tauchen in der Arena
Gemeindebau auf, zeigt ein Lokalaugenschein.
Konfliktpotenzial und Aufstiegschance
Der
Gemeindebau am Friedrich-Engels-Platz im 20. Wiener Gemeindebezirk
ist der zweitgrößte Wiens. 1.400 Wohnungen gibt es in der riesigen
Wohnanlage. Bei einem Lokalaugenschein in den großzügigen, grünen
Innenhöfen wird aber klar: Zusammenleben stellt auch eine
Herausforderung dar. Dennoch zeigen sich die Gemeindebaubewohner
froh, eine günstige Wohnung mitten in der Stadt zu haben. Auch wenn
Hilfe von öffentlichen Stellen manchmal auf sich warten lässt.
Eine
grüne Oase mitten in der Stadt: Im ersten Innenhof der
„Wohnausanlage Engelsplatz“ werden die Bewohner von Wiese, Bäumen
und Plätzen zum Verweilen begrüßt. Auf den ersten Blick bietet die
Anlage eine Idylle mitten in der Stadt. Edith, die gerade mit ihrem
Hund spazieren geht, wohnt seit den 50er Jahren im Gemeindebau im 20.
Wiener Gemeindebezirk. „Es hat sich alles geändert“, sagt die
Pensionistin und deutet auf den Müllplatz. „Überall liegt Müll
herum, alles schaut aus. Wenn in der Früh die Hausbesorger
aufräumen, ist am Abend wieder alles voll.“ Warum Müllsäcke
einfach neben die Mistkübel geschmissen werden, versteht die rüstige
Pensionistin nicht.
Gemeindebau ist nicht gleich Gemeindebau
Ein
Viertel der Wiener Bevölkerung lebt in einer der rund 220.000
Gemeindebauwohnungen, die über alle 23 Wiener Stadtbezirke verstreut
sind. Somit ist die Gemeinde Wien der wichtigste Wohnungseigentümer
der Stadt. Gemeindebau ist dabei nicht gleich Gemeindebau. Bei den
knapp 2.000 Gemeindebaukomplexen gibt es neben den großen
„Volkswohnpalästen“ der Zwischenkriegszeit wie dem Karl-Marx-Hof
auch viele kleinere Wohneinheiten im Zentrum und auch am Stadtrand
von Wien.
Viele
große europäische Städte wie London und Paris haben mit
Ghettoisierung und Segregation zu kämpfen. Im Vergleich zu anderen
Städten sei die Segregation in Wien vergleichsweise gering
geblieben, erklärt Christoph Reinprecht, Professor am Institut für
Soziologie an der Universität Wien, gegenüber ORF.at. Natürlich
gebe es in Wien auch Formen der Segregation, also Gegenden, in denen
bestimmte Bevölkerungsgruppen besonders stark vertreten seien.
Allerdings sei das in Wien nur sehr punktuell, so der Soziologe.
Umzug: „Keine Option“
Veronika,
die seit knapp vier Jahren im Gemeindebau wohnt, ist froh, dort
untergekommen zu sein, wie sie ORF.at beim Lokalaugenschein erzählt.
„Sonst würde ich auf der Straße leben“, schildert die
Mittfünfzigerin. Die gebürtige Steirerin ärgert sich aber über
Ruhestörungen am Abend. Auch Edith fühlt sich dadurch belästigt.
Auf die Frage, was sie dagegen unternimmt, antwortet Edith mit einem
Lachen: „Nichts! Da kannst nichts machen.“ Ein Umzug ist aber für
beide Frauen keine Option. „Wohin denn?“, fragt Veronika.
Immerhin habe sie die Wohnung in einer Notlage bekommen.
Auf
die Frage, was die Politik zur Besserung beitragen könnte, winkt
Edith ab. „Zur nächsten Wahl werde ich gar nicht mehr gehen“,
sagt sie resigniert. Veronika will im Herbst schon ihre Stimme
abgeben, jedoch nicht mehr für jene Partei die sie eigentlich immer
gewählt habe.
Politisch
gesehen gelten die Gemeindebauten als Bastionen des „Roten Wiens“.
Bei der vergangenen Gemeinderatswahl 2010 gab es einen
überdurchschnittlich hohen Anteil an SPÖ-Wählerinnen und -Wählern
im Gemeindebau. Das trifft auch auf die FPÖ zu, wenn auch nicht im
selben Ausmaß. Doch die Freiheitlichen sind für viele attraktiv
geworden, von „den Roten“ fühle man sich oft nicht mehr
vertreten.
Wahlkampfthema Ausländer und Gemeindebau
Die
FPÖ war es auch, die im Februar dieses Jahres in einer Anfrage an
den Wiener Wohnbaustadtrat Michael Ludwig (SPÖ) wissen wollte, wie
viele Gemeindewohnungen an Ausländer vergeben werden. Ein Thema, das
viele der „alteingesessenen Österreicher“ im Gemeindebau sehr
beschäftigt. Tatsächlich wurden aber nur knapp vier Prozent der
Gemeindewohnungen an Drittstaatenangehörige vergeben. Also an
Menschen, die zwar über einen langfristigen Aufenthaltstitel in
Österreich verfügen, aber weder österreichische noch
EU-Staatsbürger sind. Der Anteil ist damit niedriger als in der
Stadt insgesamt. Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft
dürfen überhaupt erst seit 2006 in den Gemeindebau einziehen.
Schnelle Veränderungen und Alteingesessene
Gleichzeitig
habe die Stadt Wien vor allem in den 90er Jahren sehr großzügig
eingebürgert, betont der Soziologe Christoph Reinprecht. Zu dieser
Zeit war es für Nicht-Österreicher noch nicht möglich, in
Gemeindewohnungen einzuziehen. Es zogen aber immer mehr Eingebürgerte
in den Gemeindebau. Heute ist der Anteil der Eingebürgerten in den
städtischen Wohnanlagen höher als im Durchschnitt der Stadt. Diese
schnelle Veränderung sei oft ein Grund für die Frustration und die
Entfremdung der Menschen, so Reinprecht.
„Keine Luxuswohnungen“
Auf
einer Parkbank in der Sonne sitzen Bayran und Sewket. Beide leben
schon seit Jahrzehnten in Österreich und seit nahezu zehn Jahren im
Gemeindebau. Auch sie stört das Verhalten vieler Hausbewohner. „Es
gibt schon schlimme Leute“, sagt Bayran. „Die verbrennen
Infotafeln, schmeißen ihre Zigarettenstummel ins Stiegenhaus oder
zerbrechen die Glasfenster der Haustüre.“ Und günstig seien die
Mieten im Gemeindebau auch nicht mehr. „Die Wohnungen hier sind
über 70 Jahre alt. Das sind keine Luxuswohnungen“, beschwert sich
Sewket.
Von
der Stadt Wien gab es in den letzten Jahren immer wieder Kampagnen,
um den Gemeindebau attraktiver zu gestalten. seit 2010 gibt es das
Projekt Wohnpartner, das Streitereien zwischen Mietern durch
Mediation, also quasi durch einen Streitschlichter, lösen soll.
Zudem gehen Renovierungen von Gemeindebauten weiter, und auch eine
leicht verständliche Hausordnung wurde vom Wohnbauressort erstellt.
Trotzdem gibt es immer wieder öffentliche Kritik an Missständen in
einigen Gemeindewohnungen, wie etwa Schimmel.
Aufstieg und Absicherung
Eine
junge Mutter, die am Spielplatz ihrem Sohn beim Schaukeln zuschaut,
lebt gerne im Gemeindebau in Wien Brigittenau. Seit 13 Jahren haben
sie und ihre Familie bereits die Wohnung. Die aus der Türkei
stammende Frau ist froh darüber, in einer der rund 1.400 Wohnungen
am Friedrich-Engels-Platz untergekommen zu sein. Laut Wohnbaustadtrat
Ludwig warten derzeit rund 16.500 Personen auf eine geförderte
Wohnung. Jährlich gibt es zwischen 10.000 bis 11.000 Neuvergaben.
Trotz
Kritik verschiedener Seiten hebt Universitätsprofessor Reinprecht
die positiven Seiten des Gemeindebaus hervor: „Für Menschen mit
Migrationshintergrund bedeutet der Einzug in den Gemeindebau zumeist
einen sozialen Aufstieg und vor allem einen Ausstieg aus unsicheren
Wohnverhältnissen. Hier ist der Gemeindebau eine Möglichkeit für
einen sozialen Aufstieg und Sicherheit. Das erleben die Menschen auch
so.“
Dass
die etablierten Gemeindebaubewohner auf neue Nachbarn empfindlich
reagieren, sei nachvollziehbar. Die unterschiedlichen Erwartungen an
den Gemeindebau und auch die unterschiedliche Nutzung der
öffentlichen und privaten Räume führen laut dem Soziologen zu
Konflikten. Auf engem Raum treffen oft sehr verschiedene Lebenswelten
aufeinander.
„Es ist nicht alles schlecht“
Zurück
am Friedrich-Engels-Platz. Karim und Arian leben seit ihrer Kindheit
im Gemeindebau. Die beiden Jugendlichen sind mit ihren Rädern
unterwegs und erzählen, dass es schon öfter „Stress“ gibt. Am
Abend sei es oft laut in den Innenhöfen. Da gebe es dann
Streitereien, wenn sich „alte Leute beschweren“. Sie selbst
wohnen aber gerne in der Wohnanlage. Immerhin gibt es viel Freiraum,
und ihre Freunde leben auch hier.
„Soziale
Durchmischung in Gemeindebauten“, für die seitens der Politik
geworben wird, ist für Reinprecht nur ein Slogan. Für die soziale
Integration sei es vielmehr wichtig, dass alle gesellschaftlichen
Gruppen im öffentlichen Raum sichtbar sind und diesen Raum gemeinsam
nutzen. Der Soziologe nennt hier den fünften Wiener Gemeindebezirk
Margareten als Beispiel.
Dieser
habe sich von einem klassischen Arbeiter- und Kleinhandwerkerbezirk
stark weg entwickelt: „Der Wohnungsmarkt bewegt sich, die Mieten
steigen, die Dachgeschoße werden ausgebaut, und die Mittelschichten
ziehen vermehrt dorthin. Aber durch die starke Präsenz von
Gemeindebauten bleiben auch Menschen mit niedrigeren Einkommen dort.
Und dadurch kommt es natürlich auch zu einer sozialen Durchmischung
im Bezirk.“
Ist der klassische Gemeindebau noch attraktiv?
Der
Wiener Gemeindebau der Zwischenkriegszeit wollte alles in sich
vereinen: günstige Wohnungen, viel Grünraum und auch
gemeinschaftliche Einrichtungen wie Büchereien, Kindergärten und
Geschäfte. Von den Geschäftslokalen sind im Gemeindebau in
Brigittenau nicht viele geblieben. Einen kleinen Supermarkt und eine
Modeboutique gibt es noch. Inmitten farblich sortierter Kleidung
steht Margarethe, eine gepflegte Dame Ende 50. Früher habe es im
gesamten Hof Geschäfte gegeben, erzählt sie, einen Schuster und
einen Putzer beispielsweise. Damals hätten auch viele Leute aus dem
Gemeindebau in der Modeboutique eingekauft, jetzt sei das anders.
„Jetzt wohnt eine andere Kultur hier, und die sind nicht mehr
unsere Kunden.“
Nebenan
betreibt Emrah einen kleinen Supermarkt und verkauft auch
Pizzaschnitten und Döner Kebab. Probleme gebe es im Großen und
Ganzen keine im Gemeindebau. „Mit dem Vorbesitzer gab es öfters
Streitereien“, räumt er aber ein. Der habe das Geschäft aber auch
eher als Lokal geführt. Seit Emrah das Geschäft vor zwei Monaten
übernommen hat, gibt es keinen Alkohol mehr, und im Laden herrscht
striktes Rauchverbot. Er wirkt zufrieden und auch ein wenig stolz.
Vor
dem Geschäft sitzt eine dreiköpfige Familie. Alle essen genüsslich
Eis. Dass Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) wieder Gemeindebauten
bauen will, haben sie bereits gehört. „Wenn die Durchmischung gut
ist, dann funktioniert es auch“, meint die Frau. Und wie ist die
Durchmischung hier am Friedrich-Engels-Platz? Die Frau schmunzelt nur
und widmet sich wieder ihrem Eis.
Miriam
Beller, Juliane Nagiller, Philipp Maschl, ORF.at
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