Gut situierte Menschen mit Arbeit und Familie, die während einer Lebenskrise in die Wohnungslosigkeit schlittern: ein Phänomen, das sich in Wien seit Jahren dramatisch verstärkt.
Ein guter Job, eine schicke Wohnung in Meidling für seine kleine Familie und ein intaktes Sozialleben. Bis vor eineinhalb Jahren fehlte es Thomas Huber (Name geändert) an nichts. Keine sechs Monate später war er wohnungslos, hatte keine Arbeit mehr, und seine Ehe ging auch in die Brüche. Allerdings nicht in dieser Reihenfolge.
„Im Mai 2013 zog meine Frau mit unserem achtjährigen Sohn aus und ließ mich mit fünf Monatsmieten Rückstand allein zurück“, blickt der 45-Jährige zurück. „Zwischenzeitlich im Mietrückstand zu sein war damals nichts Besonderes, da ich als Kran- und Baggerfahrer auf dem Bau gearbeitet und im Winter weniger verdient habe.“ Über das Jahr gesehen habe sich das früher immer ausgeglichen.
Früher musste er die Miete aber nicht allein aufbringen. Hinzu kamen plötzlich Alimente für seinen Sohn, für seine 16-jährige Tochter aus einer früheren Beziehung bezahlte er ebenfalls Unterhalt. „Ich weiß nicht, ob man das als Fehler bezeichnen kann, aber ich habe keine einzige Zahlung für meine Kinder ausgesetzt“, erzählt Huber. „Lieber bin ich bei der Miete immer weiter in Rückstand geraten, bis ich irgendwann vor der Delogierung gestanden und freiwillig ausgezogen bin.“ Eine andere Wohnung zu mieten sei zu diesem Zeitpunkt undenkbar gewesen. „Mitten in dieser misslichen Lage habe ich auch noch für kurze Zeit meinen Job verloren und hätte weder die hohen Mieten noch eine Kaution oder Ablöse bezahlen können. Also kam ich einige Monate bei meinen Eltern und Freunden unter.“
Freien Fall gestoppt
Als sich aber eine Besserung der Situation nicht abzeichnete, die Schulden immer mehr wurden und er auch noch anfing zu trinken, zog er die Reißleine und wandte sich an das BZWO, das Beratungszentrum Wohnungslosenhilfe des Fonds Soziales Wien, das ihn an das Neunerhaus vermittelte. Dort kam er schließlich im betreuten Kurzzeitwohnhaus des Sozialvereins in der Billrothstraße unter. Einer Einrichtung mit 43 Plätzen für Menschen, die in einer Lebenskrise plötzlich wohnungslos werden. Durchschnittlich fünf Monate verbringen die Klienten, wie sie genannt werden, in dem Haus, ehe sie nach intensiver Betreuung durch Sozialarbeiter zumeist in eine Sozialwohnung der Stadt Wien ziehen. 270 Euro kostet ein Mini-Apartment inklusive Betriebskosten.
„Diese Wohnungslosenhilfe geht über Notversorgung hinaus. Die meisten der Klienten kommen aus geordneten Verhältnissen, viele haben Arbeit. Sie entsprechen also nicht dem Klischeebild des verwahrlosten Obdachlosen“, sagt Neunerhaus-Geschäftsführer Markus Reiter. „Aber der Wohnungsmarkt und die Einkommenssituation haben sich in den vergangenen Jahren derart verändert, dass Menschen in einer Krisensituation wie etwa Trennung, Krankheit oder Jobverlust schnell in eine Abwärtsspirale geraten und in die Wohnungslosigkeit rutschen können.“ Diesen Menschen müsse geholfen werden, damit sie so schnell wie möglich in eine neue Wohnung ziehen und sich ihre Situation nicht weiter verschlechtert. Allein in Wien habe sich die Zahl der Wohnungslosen seit 2006 von 5000 auf 10.000 Menschen verdoppelt. Dieses Phänomen verstärke sich massiv und sei vor allem eine Folge gestiegener Mieten. „Um dieser Entwicklung gegenzusteuern, braucht es nicht nur mehr Gemeindewohnungen, sondern auch einen besseren Zugang zu Genossenschafts- und Privatwohnungen, die zwei Drittel des Marktes ausmachen.“
„Programm für Mittelschicht“
So fordert Reiter beispielsweise ein Kontingent für Vereine wie das Neunerhaus bei der Vergabe von geförderten Wohnungen. Diese dürften nicht nur ein „Programm für die Mittelschicht“ sein. Die Zugangshürden wie etwa extrem hohe Eigenmittel müssten abgebaut werden, damit plötzlich wohnungslos gewordenen Menschen der Weg zurück in ihre eigenen vier Wände erleichtert werde. Menschen wie Thomas Huber, der im Februar in eine 35 m große Gemeindewohnung in Penzing ziehen wird. 250 Euro macht die Kaltmiete dort aus. Das ist bezahlbar. Denn auch seinen alten Job als Kran- und Baggerfahrer hat er wieder. Sobald es etwas wärmer wird, geht es wieder zurück auf die Baustelle, bis dahin hilft Huber im Café „Einfach so“ im 18. Bezirk als Kellner aus.
„Ich kann es gar nicht erwarten, endlich wieder etwas Eigenes zu haben“, sagt er. „Und ich muss gestehen, dass ich ziemlich stolz bin, mich aus dieser Lebenskrise befreit zu haben. Wichtig ist, sich selbst niemals aufzugeben und immer ein Ziel vor Augen zu haben.“ Sein Ziel sei es in erster Linie gewesen, wieder Ordnung in sein Leben zu bringen, um seine Kinder weiterhin zu unterstützen. „Erst dann“, so Huber, „kommen meine eigenen Bedürfnisse, die ich natürlich auch habe. Und zwar würde ich gern wieder ein Motorrad besitzen, wie früher. So ein bisschen auch als Zeichen dafür, mein altes Leben zurückerobert zu haben.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.02.2015)
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