Freitag, 6. Februar 2015

Wien – zurück zu alter Größe


Wien erlebt, wie bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, einen enormen Boom. Die Politik steht vor ähnlichen Herausforderungen wie damals.
In Wien wird an allen Ecken gebaut. Um das Bevölkerungswachstum der Metropole bewältigen zu können, werden gänzlich neue Wohngebiete errichtet, Schulen, Spitäler, Altersheime und Bahnhöfe erstellt, die Stadtbahn angelegt. In der zentralen Kärntnerstraße drängen sich die Menschen vor den Schaufenstern, und in der Straßenbahn herrscht ein Stimmengewirr verschiedenster Sprachen. Um die Verbauung auch der Naherholungsgebiete zu verhindern, beschließt der Gemeinderat, den Wienerwald westlich und südlich der Stadt unter Schutz zu stellen.

Vom Rand in die Mitte

Eine solche Schilderung würde in weiten Teilen auf die heutige Zeit zutreffen, beschreibt aber die Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wien, das Zentrum der Donaumonarchie, war nicht nur Mittelpunkt einer Großmacht mit rund 53 Millionen Einwohnern, sondern erlebte im Fin de Siècle auch eine außergewöhnliche kulturelle und wirtschaftliche Blüte. Die Eingemeindung der Vororte, vor allem aber die durch den Aufschwung bedingte Zuwanderung ließ die Bevölkerungszahl explodieren. Unter anderem als Folge der völligen Veränderung des Stadtbilds in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als unzählige Prachtbauten entstanden, zogen Tausende von Arbeitern aus den Ländern des Habsburgerreichs in die Hauptstadt. Zwischen 1860 und 1910 war sie die am schnellsten wachsende Stadt Europas, die Einwohnerzahl verdreifachte sich laut einer Studie des Statistischen Amts von rund 700 000 auf den 1910 offiziell gemessenen Höchststand von 2,1 Millionen.

Diese Zahl wurde im Ersten Weltkrieg aufgrund des Zustroms von Flüchtlingen noch übertroffen, danach sank sie aber kontinuierlich. Wien war nicht mehr die Hauptstadt eines Imperiums, sondern eines in der Zwischenkriegszeit von wirtschaftlichen Krisen gebeutelten Landes auf Identitätssuche. Nach dem Zweiten Weltkrieg stabilisierte sich Österreich rasch, doch unmittelbar am Rand des Eisernen Vorhangs übte Wien auf Zuwanderer – stets der Motor der demografischen Entwicklung der Stadt – nur geringe Anziehungskraft aus. Die Bevölkerungszahl fiel auf rund 1,5 Millionen im Jahr 1981.
Mit der Wende 1989 änderte sich dies jedoch radikal. Wien rückte vom Rand in die Mitte Europas. Laut Angelika Winkler von der Behörde für Stadtentwicklung und Stadtplanung (MA 18) war dies der entscheidende Punkt zunächst für eine Stabilisierung und seit nunmehr gut zehn Jahren für ein rasantes Wachstum der Einwohnerzahl. In den Jahren 2001 bis 2011 legte diese in Wien um knapp elf Prozent zu – in Europa wuchsen nur Madrid, Stockholm und Brüssel in derselben Periode stärker. Bewahrheiten sich die Prognosen der Statistiker, dürfte Österreichs Hauptstadt in diesem Ranking in den nächsten Jahren gar noch weiter vorstossen und mit München um den Spitzenplatz ringen. Im Sommer präsentierte die Stadt Wien eine neue Berechnung, wonach bereits 2029 – fünf Jahre früher als erwartet – erstmals seit hundert Jahren die Zwei-Millionen-Grenze wieder überschritten wird. Bis zu diesem Zeitpunkt soll Wien nochmals um 250 000 Personen wachsen, was der Grösse von Graz entspricht – immerhin die zweitgrösste Stadt des Landes.
Bereits 1992 rief der damalige Wiener Planungsstadtrat Hannes Swoboda in Anspielung auf die Wachstumsphase in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine «zweite Gründerzeit» aus. Das Ausmass des Booms war damals jedoch kaum vorhersehbar, und es stellt die Stadt vor enorme Herausforderungen. Allein in der laufenden Planungsperiode bis 2025 müssen laut Winkler 120 000 Wohnungen gebaut werden. Dabei profitiert Wien davon, dass es bis vor kurzem auch an zentraler Lage noch großflächige Bahn- und Industrieanlagen aus der Zeit der Donaumonarchie gab, die nach dem Zerfall des Reichs nicht mehr gebraucht wurden. Am alten Nordbahnhof etwa wird derzeit ein Gelände von 85 Hektaren überbaut, etappenweise entstehen 10 000 Wohnungen und 20 000 Arbeitsplätze. Ebenfalls ein gänzlich neues Stadtquartier mit 5000 Wohnungen wird am Südbahnhof errichtet, der seit kurzem als Hauptbahnhof in Betrieb ist.

Kritik von Experten

Doch das Bauen auf der grünen Wiese stösst immer wieder auf Widerstand, unzählige Bürgerinitiativen wehren sich jeweils gegen die Projekte. Dazu kam zuletzt aber auch vermehrt Kritik von Experten, die der Stadt vorwerfen, Investoren gegenüber zu nachgiebig zu sein. So protestierten im Frühling namhafte Architekten in einem offenen Brief gegen die Neugestaltung des Areals des Wiener Eislaufvereins und die Errichtung eines Hochhauses mit Luxuswohnungen. Zuvor hatte bereits die Unesco die Höhe des geplanten Gebäudes moniert, da es unmittelbar am Rand der Inneren Stadt (erster Bezirk) liegt, die gesamthaft als Weltkulturerbe gilt. Dieser Status könnte laut der Kulturorganisation sogar gefährdet sein, sollte der Turm in der geplanten Höhe gebaut werden.
Meist weniger umstritten ist die zweite Variante zur Schaffung von zusätzlichem Wohnraum, die Nachverdichtung. Im Vordergrund stehen dabei vor allem Aufstockungen und Dachausbauten bei den alten Gründerzeithäusern, die immerhin rund einen Drittel des Wiener Gebäudebestands ausmachen. Ein Vertreter der Wiener Wirtschaftskammer sagte kürzlich gegenüber der Zeitung «Der Standard», allein auf diese Weise könnten 100 000 zusätzliche Wohnungen geschaffen oder der gesamte Zuzug der kommenden 15 Jahre untergebracht werden. Winkler relativiert allerdings. Aufgrund des Status als Weltkulturerbe seien Dachausbauten in der Inneren Stadt nur begrenzt möglich, zudem hätten strenge Erdbeben-Richtlinien Aufstockungen verteuert.
Dennoch haben Dachausbauten sowie der Ersatz nicht geschützter Altbauten durch dichter gebaute Häuser zur Folge, dass auch die Innenstadt markant wächst – mit Ausnahme des Ersten Bezirks, der für Familien kaum mehr erschwinglich ist, da Wohnungen oft zusammengelegt und zu Höchstpreisen vermietet werden. Um die hohe Lebensqualität zu erhalten, braucht es deshalb nicht nur am Stadtrand den Ausbau der sozialen Infrastruktur, des öffentlichen Verkehrs sowie die Erhaltung von Grünflächen. Dabei ist es wichtig, die demografische Struktur zu kennen. Laut der Prognose der Stadt sind 69 Prozent des Wachstums auf Zuwanderung aus dem In- und Ausland zurückzuführen. Eine Konsequenz daraus ist, dass Wien gleichzeitig älter und jünger wird. Zwar ist die Geburtenrate seit drei Jahrzehnten konstant, drei Viertel aller Zuwanderer sind aber unter 30, während die Stadt von einem weiteren Anstieg der Lebenserwartung ausgeht.
Die Wohnsituation in Wien ist natürlich in keiner Weise mit derjenigen vor gut hundert Jahren vergleichbar. Während heute eine Person durchschnittlich über 42 Quadratmeter verfügt, teilte sich damals normalerweise eine ganze Familie die Hälfte dieses Platzes. Häufig wurden die Betten zudem tagsüber an sogenannte Schlafgänger vermietet, beispielsweise an Schichtarbeiter. Der Grossteil der Bevölkerung lebte in elenden Bedingungen. Gleichwohl profitiert Wien von visionären Entscheidungen, die einst aufgrund des Bevölkerungswachstums getroffen wurden. So versorgen noch heute die beiden Wiener Hochquellenwasserleitungen die Stadt mit Trinkwasser aus der Steiermark, die Strecken der alten Stadtbahn sind Teil zweier U-Bahnlinien, und die Donauregulierung machte große Teile des heutigen Stadtgebiets erst bewohnbar.
Es ist diese lange Tradition der strategischen Planung – in der Zwischenkriegszeit fortgesetzt mit der sozialdemokratischen Kommunalpolitik des «Roten Wiens» –, die Wien laut Winkler von anderen Großstädten unterscheidet. Dieser Ansicht ist auch Rudolf Scheuvens, Professor für Raumplanung an der Technischen Universität Wien. Im Gegensatz zu anderen Städten lege Wien enormen Wert auf die Leistbarkeit des Wohnraums, die auch langfristig gesichert werden soll. Die Wachstumsfrage spiele aus diesem Grund eine stärkere Rolle als in anderen Metropolen. Seit der Zeit des «Roten Wiens» verstehe man in der nach wie vor stark sozialdemokratisch geprägten Stadt den sozialen Wohnbau als zentrale politische Aufgabe und greife deshalb wie in kaum einer anderen Stadt in den Markt ein. Über zwei Drittel der Menschen leben in gefördertem Wohnbau, die Gemeinde gilt gemeinhin als grösste Immobilienbesitzerin Europas.

Durchmischung als Ziel

Aus diesem Grund seien die Mietpreise trotz dem Boom bei weitem nicht so stark gestiegen wie in ähnlich stark wachsenden Metropolen, erklärt Scheuvens. Vom hohen Anteil subventionierten Wohnbaus profitieren aber auch unterschiedliche Schichten bis zum gehobenen Mittelstand ganz direkt, was ebenfalls ein leitendes Prinzip der Politik ist und der sozialen Durchmischung von Quartieren dienen soll. Selbst wer die Voraussetzungen für eine geförderte Wohnung längst nicht mehr erfüllt, muss nicht ausziehen. Ob dies effizient sei, sei wissenschaftlich umstritten, sagt Scheuvens. Wien habe aber gute Erfahrungen damit gemacht. Tatsächlich gibt es im Vergleich zu anderen Städten dieser Größe wenige soziale Brennpunkte, geschweige denn gefährliche Gegenden.
Gemessen an diesem politischen Anspruch sei die Qualität der Architektur überdurchschnittlich, findet Scheuvens. Er teilt zwar die Kritik, dass man in Wien nicht viele architektonisch spektakuläre Gebäude der jüngeren Vergangenheit finde. Die Verknüpfung von gesellschaftlichen Anliegen mit Stadtentwicklungsfragen sei in Wien aber einzigartig.

Die Stadt der Zukunft

Für die letzten Stationen ist die U-Bahn menschenleer, ebenso der Endbahnhof. Keine Gratiszeitungen liegen auf dem blitzblanken Boden, und statt hektischer Schritte hört man nur das leise Rattern der Rolltreppen. Das erstaunt nicht, denn in der Seestadt Aspern wohnen derzeit erst gut 50 Personen. In einem Jahr sollen es aber bereits 6000 sein. Dass die U-Bahn-Anbindung zuerst fertiggestellt wurde, hat Symbolcharakter, denn in Aspern soll eine Art Stadt der Zukunft entstehen. Derzeit ragen noch unzählige Baukräne in den Himmel, doch wenn in zehn Jahren rund 20 000 Menschen hier leben, sollen sie rund um einen künstlichen See wohnen, arbeiten, einkaufen und die Freizeit verbringen. Geplant ist eine voll funktionsfähige Stadt der kurzen Wege mit Fahrradverleih und Carsharing, weshalb die Bauordnung nur 0,7 Parkplätze pro Wohnung vorschreibt anstatt einen wie im Rest der Stadt.
Damit keine Schlafstadt entsteht, sind auch 20 000 Arbeitsplätze geplant, bereits 2016 eröffnet der Schweizer Technologiekonzern Hoerbiger eine Forschungsabteilung für 600 Personen. Man hofft auf die Ansiedlung von weiteren Firmen im Hightech- und Green-Tech-Bereich, außerdem werden zwei Bildungscampus errichtet. Wie überall in Wien (vgl. Haupttext) legt die dafür zuständige Entwicklungsgesellschaft zudem Wert auf eine gute soziale Durchmischung. Subventionierte Wohnungen entstehen ebenso wie reguläre Miet- und Eigentumswohnungen. Die Seestadt ist so eines der ganz typischen Wiener Entwicklungsprojekte, die auf der Fläche eines bis nach dem Zweiten Weltkrieg genutzten Flughafens entstehen. Gut 20 Fahrminuten nordöstlich des Zentrums liegt sie jenseits der Donau im 22. Bezirk (Donaustadt), der bis zur Regulierung des Flusses Überschwemmungsgebiet war und dessen Bevölkerungszahl bis zum Jahr 2034 laut Prognose um 34 Prozent zunehmen wird. Die Planung für das Projekt begann vor 25 Jahren – und doch wird es in 10 Jahren nur jener Anzahl Menschen Wohnraum bieten, um die Wien in einem Jahr wächst.


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