Wien erlebt, wie bereits in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts, einen enormen Boom. Die Politik steht vor ähnlichen
Herausforderungen wie damals.
In Wien wird an allen Ecken gebaut. Um das Bevölkerungswachstum
der Metropole bewältigen zu können, werden gänzlich neue Wohngebiete errichtet,
Schulen, Spitäler, Altersheime und Bahnhöfe erstellt, die Stadtbahn angelegt.
In der zentralen Kärntnerstraße drängen sich die Menschen vor den
Schaufenstern, und in der Straßenbahn herrscht ein Stimmengewirr
verschiedenster Sprachen. Um die Verbauung auch der Naherholungsgebiete zu
verhindern, beschließt der Gemeinderat, den Wienerwald westlich und südlich
der Stadt unter Schutz zu stellen.
Vom
Rand in die Mitte
Eine solche
Schilderung würde in weiten Teilen auf die heutige Zeit zutreffen, beschreibt
aber die Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wien, das Zentrum der
Donaumonarchie, war nicht nur Mittelpunkt einer Großmacht mit rund 53
Millionen Einwohnern, sondern erlebte im Fin de Siècle auch eine außergewöhnliche kulturelle und wirtschaftliche Blüte. Die Eingemeindung der
Vororte, vor allem aber die durch den Aufschwung bedingte Zuwanderung ließ die Bevölkerungszahl explodieren. Unter anderem als Folge der völligen Veränderung
des Stadtbilds in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als unzählige
Prachtbauten entstanden, zogen Tausende von Arbeitern aus den Ländern des
Habsburgerreichs in die Hauptstadt. Zwischen 1860 und 1910 war sie die am
schnellsten wachsende Stadt Europas, die Einwohnerzahl verdreifachte sich laut einer Studie des Statistischen Amts von rund 700 000 auf den 1910
offiziell gemessenen Höchststand von 2,1 Millionen.
Diese Zahl wurde im
Ersten Weltkrieg aufgrund des Zustroms von Flüchtlingen noch übertroffen, danach
sank sie aber kontinuierlich. Wien war nicht mehr die Hauptstadt eines
Imperiums, sondern eines in der Zwischenkriegszeit von wirtschaftlichen Krisen
gebeutelten Landes auf Identitätssuche. Nach dem Zweiten Weltkrieg
stabilisierte sich Österreich rasch, doch unmittelbar am Rand des Eisernen
Vorhangs übte Wien auf Zuwanderer – stets der Motor der demografischen
Entwicklung der Stadt – nur geringe Anziehungskraft aus. Die Bevölkerungszahl
fiel auf rund 1,5 Millionen im Jahr 1981.
Mit der Wende 1989
änderte sich dies jedoch radikal. Wien rückte vom Rand in die Mitte Europas.
Laut Angelika Winkler von der Behörde für Stadtentwicklung und Stadtplanung (MA
18) war dies der entscheidende Punkt zunächst für eine Stabilisierung und seit
nunmehr gut zehn Jahren für ein rasantes Wachstum der Einwohnerzahl. In den
Jahren 2001 bis 2011 legte diese in Wien um knapp elf Prozent zu – in Europa wuchsen nur Madrid,
Stockholm und Brüssel in derselben Periode stärker. Bewahrheiten sich die
Prognosen der Statistiker, dürfte Österreichs Hauptstadt in diesem Ranking in
den nächsten Jahren gar noch weiter vorstossen und mit München um
den Spitzenplatz ringen. Im Sommer präsentierte die Stadt Wien eine neue
Berechnung, wonach bereits 2029 – fünf Jahre früher als erwartet –
erstmals seit hundert Jahren die Zwei-Millionen-Grenze wieder überschritten
wird. Bis zu diesem Zeitpunkt soll Wien nochmals um 250 000 Personen wachsen,
was der Grösse von Graz entspricht – immerhin die zweitgrösste Stadt des
Landes.
Bereits 1992 rief der damalige Wiener Planungsstadtrat Hannes
Swoboda in Anspielung auf die Wachstumsphase in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts eine «zweite Gründerzeit» aus. Das Ausmass des Booms war damals
jedoch kaum vorhersehbar, und es stellt die Stadt vor enorme Herausforderungen.
Allein in der laufenden Planungsperiode bis 2025 müssen laut Winkler 120 000
Wohnungen gebaut werden. Dabei profitiert Wien davon, dass es bis vor kurzem
auch an zentraler Lage noch großflächige Bahn- und Industrieanlagen aus der
Zeit der Donaumonarchie gab, die nach dem Zerfall des Reichs nicht mehr
gebraucht wurden. Am alten Nordbahnhof etwa wird derzeit ein Gelände von 85
Hektaren überbaut, etappenweise entstehen 10 000 Wohnungen und 20 000
Arbeitsplätze. Ebenfalls ein gänzlich neues Stadtquartier mit 5000 Wohnungen
wird am Südbahnhof errichtet, der seit kurzem als Hauptbahnhof in Betrieb ist.
Kritik
von Experten
Doch das Bauen auf
der grünen Wiese stösst immer wieder auf Widerstand, unzählige
Bürgerinitiativen wehren sich jeweils gegen die Projekte. Dazu kam zuletzt aber
auch vermehrt Kritik von Experten, die der Stadt vorwerfen, Investoren
gegenüber zu nachgiebig zu sein. So protestierten im Frühling namhafte
Architekten in einem offenen
Brief gegen die
Neugestaltung des Areals des Wiener Eislaufvereins und die Errichtung eines
Hochhauses mit Luxuswohnungen. Zuvor hatte bereits die Unesco die Höhe des
geplanten Gebäudes moniert, da es unmittelbar am Rand der Inneren Stadt (erster
Bezirk) liegt, die gesamthaft als Weltkulturerbe gilt. Dieser Status könnte
laut der Kulturorganisation sogar gefährdet sein, sollte der Turm in der
geplanten Höhe gebaut werden.
Meist weniger
umstritten ist die zweite Variante zur Schaffung von zusätzlichem Wohnraum, die
Nachverdichtung. Im Vordergrund stehen dabei vor allem Aufstockungen und
Dachausbauten bei den alten Gründerzeithäusern, die immerhin rund einen Drittel
des Wiener Gebäudebestands ausmachen. Ein Vertreter der Wiener
Wirtschaftskammer sagte kürzlich gegenüber der Zeitung «Der Standard», allein auf diese
Weise könnten 100 000 zusätzliche Wohnungen geschaffen oder der gesamte Zuzug
der kommenden 15 Jahre untergebracht werden. Winkler relativiert allerdings.
Aufgrund des Status als Weltkulturerbe seien Dachausbauten in der Inneren Stadt
nur begrenzt möglich, zudem hätten strenge Erdbeben-Richtlinien Aufstockungen
verteuert.
Dennoch haben Dachausbauten sowie der Ersatz nicht geschützter
Altbauten durch dichter gebaute Häuser zur Folge, dass auch die Innenstadt
markant wächst – mit Ausnahme des Ersten Bezirks, der für Familien kaum mehr
erschwinglich ist, da Wohnungen oft zusammengelegt und zu Höchstpreisen
vermietet werden. Um die hohe Lebensqualität zu erhalten, braucht es deshalb
nicht nur am Stadtrand den Ausbau der sozialen Infrastruktur, des öffentlichen
Verkehrs sowie die Erhaltung von Grünflächen. Dabei ist es wichtig, die
demografische Struktur zu kennen. Laut der Prognose der Stadt sind 69 Prozent
des Wachstums auf Zuwanderung aus dem In- und Ausland zurückzuführen. Eine
Konsequenz daraus ist, dass Wien gleichzeitig älter und jünger wird. Zwar ist
die Geburtenrate seit drei Jahrzehnten konstant, drei Viertel aller Zuwanderer
sind aber unter 30, während die Stadt von einem weiteren Anstieg der
Lebenserwartung ausgeht.
Die Wohnsituation in Wien ist natürlich in keiner Weise mit
derjenigen vor gut hundert Jahren vergleichbar. Während heute eine Person
durchschnittlich über 42 Quadratmeter verfügt, teilte sich damals normalerweise
eine ganze Familie die Hälfte dieses Platzes. Häufig wurden die Betten zudem
tagsüber an sogenannte Schlafgänger vermietet, beispielsweise an Schichtarbeiter.
Der Grossteil der Bevölkerung lebte in elenden Bedingungen. Gleichwohl
profitiert Wien von visionären Entscheidungen, die einst aufgrund des
Bevölkerungswachstums getroffen wurden. So versorgen noch heute die beiden
Wiener Hochquellenwasserleitungen die Stadt mit Trinkwasser aus der Steiermark,
die Strecken der alten Stadtbahn sind Teil zweier U-Bahnlinien, und die
Donauregulierung machte große Teile des heutigen Stadtgebiets erst bewohnbar.
Es ist diese lange Tradition der strategischen Planung – in der
Zwischenkriegszeit fortgesetzt mit der sozialdemokratischen Kommunalpolitik des
«Roten Wiens» –, die Wien laut Winkler von anderen Großstädten unterscheidet.
Dieser Ansicht ist auch Rudolf Scheuvens, Professor für Raumplanung an der
Technischen Universität Wien. Im Gegensatz zu anderen Städten lege Wien enormen
Wert auf die Leistbarkeit des Wohnraums, die auch langfristig gesichert werden
soll. Die Wachstumsfrage spiele aus diesem Grund eine stärkere Rolle als in
anderen Metropolen. Seit der Zeit des «Roten Wiens» verstehe man in der nach
wie vor stark sozialdemokratisch geprägten Stadt den sozialen Wohnbau als
zentrale politische Aufgabe und greife deshalb wie in kaum einer anderen Stadt
in den Markt ein. Über zwei Drittel der Menschen leben in gefördertem Wohnbau,
die Gemeinde gilt gemeinhin als grösste Immobilienbesitzerin Europas.
Durchmischung
als Ziel
Aus diesem Grund seien die Mietpreise trotz dem Boom bei weitem
nicht so stark gestiegen wie in ähnlich stark wachsenden Metropolen, erklärt
Scheuvens. Vom hohen Anteil subventionierten Wohnbaus profitieren aber auch
unterschiedliche Schichten bis zum gehobenen Mittelstand ganz direkt, was
ebenfalls ein leitendes Prinzip der Politik ist und der sozialen Durchmischung
von Quartieren dienen soll. Selbst wer die Voraussetzungen für eine geförderte
Wohnung längst nicht mehr erfüllt, muss nicht ausziehen. Ob dies effizient sei,
sei wissenschaftlich umstritten, sagt Scheuvens. Wien habe aber gute
Erfahrungen damit gemacht. Tatsächlich gibt es im Vergleich zu anderen Städten
dieser Größe wenige soziale Brennpunkte, geschweige denn gefährliche Gegenden.
Gemessen an diesem politischen Anspruch sei die Qualität der
Architektur überdurchschnittlich, findet Scheuvens. Er teilt zwar die Kritik,
dass man in Wien nicht viele architektonisch spektakuläre Gebäude der jüngeren
Vergangenheit finde. Die Verknüpfung von gesellschaftlichen Anliegen mit
Stadtentwicklungsfragen sei in Wien aber einzigartig.
Die Stadt der Zukunft
Für die letzten Stationen ist die U-Bahn menschenleer, ebenso
der Endbahnhof. Keine Gratiszeitungen liegen auf dem blitzblanken Boden, und
statt hektischer Schritte hört man nur das leise Rattern der Rolltreppen. Das
erstaunt nicht, denn in der Seestadt Aspern wohnen derzeit erst gut 50
Personen. In einem Jahr sollen es aber bereits 6000 sein. Dass die
U-Bahn-Anbindung zuerst fertiggestellt wurde, hat Symbolcharakter, denn in
Aspern soll eine Art Stadt der Zukunft entstehen. Derzeit ragen noch unzählige
Baukräne in den Himmel, doch wenn in zehn Jahren rund 20 000 Menschen hier
leben, sollen sie rund um einen künstlichen See wohnen, arbeiten, einkaufen und
die Freizeit verbringen. Geplant ist eine voll funktionsfähige Stadt der kurzen
Wege mit Fahrradverleih und Carsharing, weshalb die Bauordnung nur 0,7
Parkplätze pro Wohnung vorschreibt anstatt einen wie im Rest der Stadt.
Damit keine Schlafstadt entsteht, sind auch 20 000 Arbeitsplätze
geplant, bereits 2016 eröffnet der Schweizer Technologiekonzern Hoerbiger eine
Forschungsabteilung für 600 Personen. Man hofft auf die Ansiedlung von weiteren
Firmen im Hightech- und Green-Tech-Bereich, außerdem werden zwei
Bildungscampus errichtet. Wie überall in Wien (vgl. Haupttext) legt die dafür
zuständige Entwicklungsgesellschaft zudem Wert auf eine gute soziale Durchmischung.
Subventionierte Wohnungen entstehen ebenso wie reguläre Miet- und
Eigentumswohnungen. Die Seestadt ist so eines der ganz typischen Wiener
Entwicklungsprojekte, die auf der Fläche eines bis nach dem Zweiten Weltkrieg
genutzten Flughafens entstehen. Gut 20 Fahrminuten nordöstlich des Zentrums
liegt sie jenseits der Donau im 22. Bezirk (Donaustadt), der bis zur
Regulierung des Flusses Überschwemmungsgebiet war und dessen Bevölkerungszahl
bis zum Jahr 2034 laut Prognose um 34 Prozent zunehmen wird. Die Planung für
das Projekt begann vor 25 Jahren – und doch wird es in 10 Jahren nur jener
Anzahl Menschen Wohnraum bieten, um die Wien in einem Jahr wächst.
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