Montag, 23. Dezember 2013

Artzpraxis für Unversicherte vor Aus

Artzpraxis für Unversicherte vor Aus
Der Hausarztpraxis des Neunerhauses droht nach nur einem Jahr die Schließung. Weder die Wiener Gebietskrankenkasse noch die Stadt fühlen sich für die Finanzierung zuständig.
Wien. Zuversicht hört sich anders an. „Nach derzeitigem Stand der Dinge sieht es so aus, als müssten wir mit 1. April 2014 zusperren“, sagt Markus Reiter, Geschäftsführer des Wiener Sozialvereins Neunerhaus. Denn dann ist das Startkapital des Pharmaunternehmens Baxter in der Höhe von mehr als 100.000 Euro aufgebraucht. „Für die Zeit danach haben wir noch immer keine Finanzierungszusage, weder die Gebietskrankenkasse noch der Fonds Soziales Wien fühlen sich für uns verantwortlich.“
Die Rede ist von der Neunerhaus-Hausarztpraxis in der Margaretenstraße, in der seit 22.Jänner als Ergänzung zur seit 2009 bestehenden Zahnarztpraxis an vier Tagen der Woche zu fixen Ordinationszeiten Patienten behandelt werden, die obdachlos sind oder in betreuten Wohnheimen leben – mit oder ohne Krankenversicherung. Das Angebot – das zusätzlich zur medizinischen Betreuung in verschiedenen Wohnhäusern der Wiener Wohnungslosenhilfe vor Ort besteht – wurde von Anfang an sehr gut angenommen, bereits in den ersten Tagen suchten rund 30 Personen die Praxis auf. Bis Ende des Jahres werden es mehr als 500 wohnungslose Personen sein – Arbeitslose, Pensionisten, aber auch in Not geratene Berufstätige und Asylwerber. Tendenz steigend. Zum Vergleich: Auch die Zahnarztpraxis begann 2009 mit 500 Patienten im ersten Jahr. 2013 waren es bereits 1200.
„In unserer Praxis geht es nicht um Notfallmedizin, sondern um eine integrative medizinische Versorgung“, sagt Reiter. „Wir wollen die Umstände so gestalten, dass Menschen mit spezifischen Anforderungen einen niederschwelligen Zugang zu einem Arzt haben und ein Vertrauensverhältnis zu ihm aufbauen können. Menschen, die sonst nicht den Weg zu einem niedergelassenen Arzt finden.“ Dabei gehe es nicht darum, eine Parallelversorgung zu etablieren, sondern am „best point of service“ eine Brücke zu schlagen zwischen Sozialarbeit, medizinischer Versorgung und Regelsystem. Denn derzeit sei das österreichische Gesundheitssystem nicht in der Lage, diese Menschen zu betreuen.

„Keine Parallelstruktur“
Seitens der Stadt Wien ist man allerdings anderer Meinung. „Durch die bedarfsorientierte Mindestsicherung hat sich die medizinische Versorgung von Menschen in Notsituationen geändert, mittlerweile hat jeder Anspruch auf die E-Card und somit Zugang zum regulären Gesundheitssystem“, sagt Iraides Franz, Sprecherin des Fonds Soziales Wien. „Daher braucht es keine Parallelstruktur. Inklusion bedeutet nicht, für jede Zielgruppe ein eigenes System einzurichten, sondern das Regelsystem so zu gestalten, dass es für alle zugänglich ist.“
Ein Argument, das Markus Reiter nicht gelten lassen will. In Österreich sei man stolz darauf, allen Menschen dieselbe Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Aber der Versichertenstatus sei nicht die einzige Voraussetzung dafür. Damit die Inanspruchnahme dieser Versorgung gelingt, brauche es weitere Faktoren. „Und diese Faktoren bieten wir in unserer Hausarztpraxis“, so Reiter. „Natürlich ist dafür ein organisatorischer und finanzieller Mehraufwand nötig. Unsere Patienten benötigen vier- bis fünfmal mehr Zeit für ihre Behandlung als Patienten in gewöhnlichen niedergelassenen Praxen. Zudem beschäftigen wir speziell ausgewählte und geschulte Ärzte, die sich täglich mit Sozialarbeitern austauschen.“
Ein Mehraufwand, den auch die Krankenkasse nicht übernehmen will. Zusätzlich zu den Behandlungen (über die E-Card) auch die Infrastruktur einer Arztpraxis zu bezahlen, gehöre nicht zu ihren Aufgaben, meint Sprecherin Regine Bohrn.
Dabei geht es im Übrigen um 500Euro pro Ordinationstag. „Wenn man bedenkt, über welche Summen sonst im Gesundheitswesen gesprochen wird, scheint diese Summe machbar“, sagt Reiter und warnt vor einer Entwicklung, die das Gesundheitssystem deutlich teurer zu stehen kommen würde.
Es sei nämlich erwiesen, dass obdachlose Menschen, die vom niedergelassenen System nicht aufgefangen werden und später in eine medizinische Akutsituation geraten, achtmal so hohe Kosten verursachen als bei einer frühen Behandlung. „Daher“, so sagt Reiter, „erwarten wir uns die nötige Weitsicht auch seitens der Verantwortlichen.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2013)


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