Freitag, 1. November 2013

Campieren verboten - NZZ

Obdachlose in Wien

Campieren verboten!

Meret Baumann, Wien
Österreich ist eines der reichsten Länder der Welt und ein gut ausgebauter Sozialstaat. Doch auch hier leben laut einer EU-Statistik aus dem Jahr 2011 eine halbe Million Menschen in Armut. Arbeitslosigkeit oder steigende Wohnkosten können nicht nur zu einem Leben am Existenzminimum führen, sondern sogar zu Obdachlosigkeit. Nach einem Bericht des Sozialministeriums ersuchten 2006 40 000 Menschen um Hilfe für Wohnungslose, im Zuge der Krise dürften es inzwischen deutlich mehr sein.
In Wien stehen 5000 Schlafplätze für Obdachlose zur Verfügung, über 9000 Personen wurden im vergangenen Jahr betreut. Der zuständige Fonds Soziales Wien schätzt, dass zusätzlich etwa 200 Personen auf der Strasse leben. Mehrere Dutzend haben schon vor Monaten ihr Quartier im zentralen Stadtpark aufgeschlagen, wo sie auf Bänken und unter Plasticplanen ihr Hab und Gut verstauten und in Schlafsäcken übernachteten. Vor gut einer Woche wurden die Bedürftigen nun aus dem idyllischen Naherholungsgebiet vertrieben. Die Angaben über die Polizeiaktion, an der acht Streifenwagen beteiligt waren, sind widersprüchlich. Ein Obdachloser wurde wegen Widerstands gegen eine Amtshandlung mit 200 Euro gebüsst, es sollen aber auch Bussen wegen Verstosses gegen die Campierverordnung ausgesprochen worden sein.
Diese Regelung aus dem Jahr 1985 verbietet unter anderem das «Auflegen und Benützen von Schlafsäcken» ausserhalb von Campingplätzen. Einst erlassen gegen im Freien übernachtende Rucksacktouristen, dient sie nun den Behörden als Grundlage für ihr Vorgehen gegen Obdachlose. Vor allem bei der Caritas und den Grünen sorgt dies für Empörung. Den Vergleich mit Ungarn, wo vor einem Monat ein strenges Gesetz gegen das «Wohnen» an bestimmten Orten erlassen wurde, weist man in Wien weit von sich. Die Betreuung Bedürftiger mag hier besser sein und die Toleranz der Behörden höher. Auf Obdachlose angewandt, unterscheidet sich die Campierverordnung aber kaum vom gerade auch in Österreich zu Recht heftig kritisierten ungarischen Gesetz.

(NZZ, 2. 11. 2013)

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