Hintergründe der Obdachlosen-Abwehr
2. November 2013, 18:03
Die soziale Krise in der EU bringt die
Nachteile einer Aufenthaltsfreiheit ohne übergreifende Armutsabsicherung ans
Tageslicht
Obdachlosenvertreibung
im Wiener Stadtpark, Abstrafung Wohnungsloser in Wien und in Salzburg auf der
Grundlage kommunaler Verordnungen, Ausschluss von EU-Ausländern aus einer
Linzer Wärmestube der Caritas, wo man sich durch immer zahlreicher um Essen und
vorübergehenden Unterstand ersuchenden Südosteuropäern überfordert sieht: Die
in den vergangenen Tagen durch Medienberichte vermehrt bekannt gewordenen
Härten gegen Arme aus Nachbar- und anderen Unionsländern lassen vermuten, dass
sich das Problem, wie mit ihnen umzugehen sei, für Exekutive, Sozialarbeiter
und andere Helfende in Österreich derzeit vielerorts stellt.
Die kritische Öffentlichkeit reagiert auf diese
Abweisungs- und Bestrafungsaktionen mit Recht empört. Dass man in Europa, dem
Kontinent mit den weltweit ausgeprägtesten sozialstaatlichen Traditionen, auf
sichtbare, akute Armut vielerorts keine andere Reaktionsmöglichkeit als Abwehr
weiß, ist schockierend. Vor alle, wo die meisten Betroffenen in ihren
Heimatländern ohne jede Schuld ins Elend geraten – und auf der Suche nach
Auskommen westwärts gereist – sind.
Ein Helfer etwa
schildert, dass sich unter den aus dem Stadtpark Vertriebenen auch eine junge
Frau aus Griechenland mit akademischem Hintergrund befand. Auf der Flucht vor
der Massenarbeitslosigkeit in ihrer Heimat hatte sie eine Jobzusage in
Österreich, doch diese entpuppte sich nach dem Arbeitsantritt bald als faul.
Nun harre sie mangels anderer Optionen völlig mittellos in Wien aus, in der
Hoffnung, ihren ausstehenden Lohn zu bekommen. Fahre sie nach Hause zurück (wo
sie keinerlei Chance auf Arbeit habe) sei dieses Geld für immer verloren.
Angst-Argumente
Besagte Frau sei eine
Ausnahme, wird nunmehr wohl erwidert werden. Die meisten der aus dem Südosten
nach Österreich kommenden Armen wollten illegitimerweise nur am ausgebauten
heimischen Sozialsystem mitnaschen. Österreich jedoch könne nicht für die Verelendeten
halb Europas gradestehen: Es sind dies Argumente, das man angesichts der Tiefe
der sozialen Krise in Europa aufgrund der Austeritätspolitik und der ihr
entsprechenden drastischen Sparprogramme in den betroffenen Ländern hierzulande
(und in anderen von Massenarmut verschonten EU-Staaten) wahrscheinlich noch bis
zum Abwinken hören wird.
Doch
abgesehen davon, dass derlei Argumente undifferenziert die Angst vor noch mehr
Armen schüren und daher das Finden praktischer Lösungen ( = Schaffung
neuer Hilfsprojekte für die Zielgruppe) erschweren, weisen sie auf ein
Grundproblem hin: Dass die Grundfreiheit für alle Bürgerinnen und Bürger der
Europäischen Union, sich überall in der EU aufzuhalten, nur gilt, solange
besagte Bürgerinnen und Bürger die Mittel für ihren Unterhalt besitzen; ein
Fakt, auf den zuletzt der Geschäftsführer des Fonds Soziales Wien,Peter Hacker, im Standard-Interview hingewiesen hat.
Nun steht besagte
Aufenthalts- und Niederlassungsfreiheit im EU-Recht nicht unter fernen liefen.
Sondern es handelt sich hierbei um eine Grundfreiheit, vergleichbar mit jener,
die den freien Warenverkehr begründet. Sie ist somit eine rechtliche Basis der
EU – doch sie ist staatenübergreifend sozial nur sehr unzureichend abgesichert.
Wie das Auffangnetz gegen Absturz in akute Armut aussieht, ist Sache der
Nationalstaaten. Der Kreis der Berechtigten ist auf Staatsbürger und jene
beschränkt, die ins nationalstaatliche Sozialsystem bereits integriert sind.
Absicherungsniveaus
Das hat zufolge, dass
die Absicherungsniveaus von EU-Staat zu EU-Staat sehr unterschiedlich sind.
Dass in Ländern (wie Österreich), die ökonomisch besser dastehen und wo es mehr
Geld für Armenhilfe gibt, mehr Angebote existieren. Das ist an sich gut, doch
angesichts des Rückkehrs akuter Armut ins reisefreie Europa – Armut, die mit
Frieren, weil man keine Wohnung hat und Hunger, weil man kein Geld zum
Essenkaufen hat einhergeht – führt es zwangsläufig zu Konflikten. Weil auch
reisefreie „fremde" Arme Hilfe suchen, oder aber weil der Verdacht
besteht, sie könnten es vielleicht tun wollen.
Angesichts dessen gibt
es zwei Handlungsmöglichkeiten: Jene, die in Ungarn wie Frankreich, und nun
offenbar auch in Österreich, eingeschlagen wird: „fremde" Arme vertreiben,
ausschließen, bestrafen. Oder aber jene, die Zukunft hätte: Druck für EU-weite
Standards zur Absicherung gegen den Absturz ins existenzielle Nichts machen. In
der sich zuspitzenden sozialen Krise steht Europa, stehen die Verantwortlichen,
und (als Bürgerinnen und Bürger) nicht zuletzt wir alle, auch hier vor dem
Scheideweg: nationale Armen-Abwehr oder Ergänzung des Rechts, in der EU frei zu
reisen durch sozial ausgleichende Regeln, die den diesbezüglichen
Menschenrechten entsprechen. (derStandard.at, 2.11.2013)
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