Wien.
Im Südwesten Wiens - wo die Stadt langsam ins Umland mündet -
erheben sich sechs weiße Riesen. Die Wohnsilos stechen schon aus der
Ferne ins Auge. Wie gewaltige Atommeiler stehen sie zwischen den
beschaulichen Einfamilienhäusern des Stadtrands. Ghetto, denkt man
unwillkürlich. Bilder verwahrloster Satellitenstädte aus den 1970er
Jahren steigen in den Kopf: triste Betonklötze, Behausungen der
Unterschicht, Brutstätten der Kriminalität.
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Doch
der nähere Blick revidiert das Bild. Der Wohnpark Alterlaa im 23.
Bezirk ist kein sozialer Brennpunkt. Hier stehen keine Mistkübel in
Flammen, keine Jugendbanden treiben ihr Unwesen, keine dunklen
Gestalten schleichen umher. Die Gänge sind sicher, die Parkanlagen
gepflegt, Vandalismus ist kein Thema. Kaum zu glauben, immerhin leben
hier 11.000 Menschen auf engstem Raum. Sechs Wohnblöcke stehen in
drei 400 Meter langen Zeilen hintereinander. 3200 Wohnungen sind in
den bis zu 85 Meter hohen Wohnblöcken untergebracht. Anders als die
berüchtigten Plattenbauanlagen der Stadt - wie das Schöpfwerk oder
die Großfeldsiedlung - gilt Alterlaa als Vorzeigeprojekt der
Stadtplanung. Immer wieder bescheinigen Umfragen den geförderten
Sozialbauten höchste Zufriedenheitswerte bei Mietern.
"Ich
bin wirklich gerne hier", sagt Brigitte F. Die 61-Jährige zieht
ihren Einkaufs-Trolley über die Pflastersteine vor Block B.
Gemeinsam mit ihrem Gatten wohnt sie seit 30 Jahren im sechsten
Stock. "Wir wollen nicht mehr weg aus Alterlaa. Ich kann mir gar
nicht vorstellen, woanders zu leben."
Funktionalität
als Bote des Glücks
Das
wesentliche Geheimnis dieser Zufriedenheit liegt in der funktionalen
Anordnung der Wohnungen. Als Architekt Harry Glück die Türme Ende
der 1960er Jahre entwarf, berücksichtigte er allen voran die
Bedürfnisse der Bewohner. "Ihre Anforderungen standen vor der
ästhetischen Schönheit der Bauten", sagte der Raumplaner und
Glück-Experte Reinhard Seiß einmal im Interview mit der "Wiener
Zeitung". So bekam jede Wohneinheit einen privaten Freiraum, der
selbst gestaltet werden kann. Bis in den 12. Stock stapeln sich
geräumige Terrassen übereinander. Üppige Zier-Zypressen,
immergrüne Eiben und der gelb blühende Garten-Forsythien wuchern
aus den halbrunden Blumentrögen. Die restlichen Wohnungen darüber
haben zumindest eine spitz geknickte Loggia. Dadurch ist es den
Bewohnern möglich, im 180-Grad-Radius über Wien zu blicken. Mit
einer Durchschnittsgröße von 74,5 Quadratmetern sind die Wohnungen
großzügig angelegt. In unterschiedlichen Grundrissen erstrecken
sich manche sogar über zwei Etagen. Glücks Konzept soll den Mietern
von Alterlaa das Gefühl geben, in einem Einfamilienhaus zu leben.
Denn diese Wohnform galt in den 1960er Jahren als das angestrebte
Ideal.
"Früher
sind wir jedes Wochenende aufs Land gefahren. Seit wir in Alterlaa
sind, verbringen wir unsere freien Tage hier", erzählt Brigitte
F. "Wir sparen uns ein ganzes Wochenendhaus. Mein Mann geht im
Sommer schwimmen aufs Dach, ich mit den Nachbarinnen spazieren. Am
Abend sitzen wir am Balkon."
Kein
Widerspruch: luxuriös und günstig
Um
zu gewährleisten, dass die Bewohner auch ihre Freizeit im Wohnpark
verbringen und er nicht zur "Schlafstadt" verkommt, bietet
Alterlaa eine außergewöhnliche Infrastruktur. Auf den Dächern der
Wohnblöcke befinden sich Swimmingpools, im Bauch der Anlage
Hallenbäder, Solarien, Saunen. Gemäß dem Motto "Luxus für
alle" sollen die Angebote auch verbindend wirken. "Sie
erfüllen die Möglichkeit zu Kommunikation und Kennenlernen auf
Augenhöhe. Soziale Unterschiede lassen sich bei einer Begegnung in
Badekleidung viel schwerer ablesen als in den meisten anderen
Situationen. Diese ungezwungenen Kontakte sind offenbar auch einer
der Gründe, warum die Hobbyräume und das Vereinsleben
außerordentlich gut funktionieren", schreibt der Stadtforscher
Christoph Laimer in einem Artikel über Alterlaa und Glück. Die
Gemeinschaftsorte des Areals erfüllen die Funktion eines
Kirchplatzes oder Dorfgasthauses. Für Glück war es wichtig, dass
sich die Bewohner auch untereinander kennen und nicht isoliert in
ihren Wohnungen hausen. Neben den Bädern gibt es Tennis- und
Badmintonhallen, Sport- und Kinderspielplätze, Jugendzentren, 32
Klubräume, 3400 Garagen-Parkplätze, drei Kindergärten, vier
Schulen und sogar eine Kirche.
Dieser
Innovationen zum Trotz, musste sich der Architekt während der
Planung der heftigen Kritik angesehener Kollegen stellen. Größen
der Branche, wie Friedrich Achleitner oder der Erbauer der
Stadthalle, Roland Rainer, bemängelten die Wohntauglichkeit von
Hochhäusern an sich. Für sie erfüllte lediglich das klassische
Einfamilienhaus die menschlichen Wohnbedürfnisse. Menschen würden
sich in großen Wohnkomplexen nicht wohlfühlen. Selbst das Finden
der richtigen Türklingel stellten die Kritiker in Frage.
Harry
Glück sollte sie eines Besseren belehren. Hier kam ihm seine große
Erfahrung im Wohnbau zugute. Bereits 1962 bezogen Mieter seinen
ersten mehrgeschoßigen Bau. Nach der Fertigstellung seiner Projekte
informierte sich Glück bei den Bewohnern, "wie sie
funktionieren und angenommen werden, um die daraus gewonnenen
Erkenntnisse in seine nächsten Projekte mitzunehmen", schreibt
Laimer. So entwickelte er seinen pragmatischen Stil in Opposition zu
den teuren Bauten der Stararchitekten. Funktional, günstig und
relativ wartungsfrei sollten seine Gebäude sein. Schlussendlich
revidierte Friedrich Achleitner seine Bedenken über Alterlaa und
bezeichnete sie 2014 als "bemerkenswert".
Eine
Stadt am Rande der Stadt
Glück
plante eine Stadt in der Stadt. Im an Block A angrenzenden Kaufpark
florieren die Geschäfte. Vom Einzelhandel, über Möbel- und
Gartengeschäfte, Banken bis hin zu Lokalen, Restaurants und
Bäckereien, findet man alles. Anders als in den neuen
Entwicklungsgebieten der Stadt, wie dem Sonnwendviertel beim
Hauptbahnhof, sind hier die Erdgeschoßzonen belebt. Es gibt kaum
Leerstände, der Branchenmix ist vielfältig. Auf einer Asphaltfläche
spielt eine Horde Kinder Fußball. Sie lachen vergnügt, der Lärm
hallt durch den Innenhof des Einkaufszentrums. "Geh Kinder,
geht’s woanders hin", ruft die Angestellte einer Bäckerei.
"Im Park ist doch genug Platz."
Die
Grünflächen in der Großwohnsiedlung Alterlaa sind beträchtlich.
In den 140 Meter breiten Lücken zwischen Wohnzeilen befinden sich
weitläufige Parks. Sie wirken nicht bis ins letzte Detail
durchgeplant und designt. Hinter dem letzten Block wächst wildes
Buschwerk, auf einem Rodelhügel können sich die Kinder austoben.
Glücks Konzept der Freiräume scheint sich bis in die Parkanlagen zu
ziehen. Und verspüren die Alterlaaer doch einmal das Bedürfnis nach
Gebäudedichte, Gründerzeit und prunkvoller Innenstadt, bringt sie
die U-Bahn-Linie U6 in 20 Minuten hin. "Wir brauchen das Auto
fast gar nicht mehr, höchstens im Urlaub und wenn wir etwas Schweres
zu transportieren haben. Die Verkehrsanbindung ist ideal", sagt
Brigitte.
Die
hohen Standards der 1970er Jahre
Die
Zufriedenheit der Bewohner spiegelt sich auch im Ergebnis der Wiener
Gemeinderatswahl vom vergangenen Oktober wider. In allen Sprengel des
Areals wurde die SPÖ mit weit über 40 Prozent der Stimmen mehr als
bestätigt, während sie in den Stadtentwicklungsgebieten wie der
viel gerühmten Seestadt Aspern deutliche Verluste einfuhr.
Vielleicht
sollte man sich in Zeiten der wachsenden Bevölkerungszahlen und
steigenden Mieten wieder auf die Lösungen und Methoden der 1970er
Jahre besinnen. Zurück in die Zukunft, damit auch der heutige
Wohnbau wieder die Standards der 1970er Jahre erreicht. Denn
schließlich hat es ja schon einmal funktioniert, leistbares Wohnen
mit hoher Wohnqualität und dem "Luxus für alle" zu
kombinieren - ganz im Sinne des historischen Grundgedankens der
Sozialdemokratie und des Roten Wien, mit seiner Kultur der
Gemeindebauten.
Wenn
die Wohnmaschinen in Alterlaa auf den ersten Blick auch "Ghetto"
suggerieren, so täuscht diese Fernwahrnehmung. Die Bewohner fühlen
sich auch nach 40 Jahren pudelwohl.
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