Samstag, 26. März 2016

Der Wohnpark Alterlaa


Wien. Im Südwesten Wiens - wo die Stadt langsam ins Umland mündet - erheben sich sechs weiße Riesen. Die Wohnsilos stechen schon aus der Ferne ins Auge. Wie gewaltige Atommeiler stehen sie zwischen den beschaulichen Einfamilienhäusern des Stadtrands. Ghetto, denkt man unwillkürlich. Bilder verwahrloster Satellitenstädte aus den 1970er Jahren steigen in den Kopf: triste Betonklötze, Behausungen der Unterschicht, Brutstätten der Kriminalität. http://www.wienerzeitung.at/_em_daten/_cache/image/1xS2TRCfeMscDUejP4i7n1SwT-t2r9AsWvWKa2io8PWv0_t3b2reUOFyNj_nzw4zSEHcET8IsowF8Q5HNiJ4l4Sg/160325-1520-948-0900-24323-260318erlaa.jpg
Doch der nähere Blick revidiert das Bild. Der Wohnpark Alterlaa im 23. Bezirk ist kein sozialer Brennpunkt. Hier stehen keine Mistkübel in Flammen, keine Jugendbanden treiben ihr Unwesen, keine dunklen Gestalten schleichen umher. Die Gänge sind sicher, die Parkanlagen gepflegt, Vandalismus ist kein Thema. Kaum zu glauben, immerhin leben hier 11.000 Menschen auf engstem Raum. Sechs Wohnblöcke stehen in drei 400 Meter langen Zeilen hintereinander. 3200 Wohnungen sind in den bis zu 85 Meter hohen Wohnblöcken untergebracht. Anders als die berüchtigten Plattenbauanlagen der Stadt - wie das Schöpfwerk oder die Großfeldsiedlung - gilt Alterlaa als Vorzeigeprojekt der Stadtplanung. Immer wieder bescheinigen Umfragen den geförderten Sozialbauten höchste Zufriedenheitswerte bei Mietern.
"Ich bin wirklich gerne hier", sagt Brigitte F. Die 61-Jährige zieht ihren Einkaufs-Trolley über die Pflastersteine vor Block B. Gemeinsam mit ihrem Gatten wohnt sie seit 30 Jahren im sechsten Stock. "Wir wollen nicht mehr weg aus Alterlaa. Ich kann mir gar nicht vorstellen, woanders zu leben."
Funktionalität als Bote des Glücks
Das wesentliche Geheimnis dieser Zufriedenheit liegt in der funktionalen Anordnung der Wohnungen. Als Architekt Harry Glück die Türme Ende der 1960er Jahre entwarf, berücksichtigte er allen voran die Bedürfnisse der Bewohner. "Ihre Anforderungen standen vor der ästhetischen Schönheit der Bauten", sagte der Raumplaner und Glück-Experte Reinhard Seiß einmal im Interview mit der "Wiener Zeitung". So bekam jede Wohneinheit einen privaten Freiraum, der selbst gestaltet werden kann. Bis in den 12. Stock stapeln sich geräumige Terrassen übereinander. Üppige Zier-Zypressen, immergrüne Eiben und der gelb blühende Garten-Forsythien wuchern aus den halbrunden Blumentrögen. Die restlichen Wohnungen darüber haben zumindest eine spitz geknickte Loggia. Dadurch ist es den Bewohnern möglich, im 180-Grad-Radius über Wien zu blicken. Mit einer Durchschnittsgröße von 74,5 Quadratmetern sind die Wohnungen großzügig angelegt. In unterschiedlichen Grundrissen erstrecken sich manche sogar über zwei Etagen. Glücks Konzept soll den Mietern von Alterlaa das Gefühl geben, in einem Einfamilienhaus zu leben. Denn diese Wohnform galt in den 1960er Jahren als das angestrebte Ideal.
"Früher sind wir jedes Wochenende aufs Land gefahren. Seit wir in Alterlaa sind, verbringen wir unsere freien Tage hier", erzählt Brigitte F. "Wir sparen uns ein ganzes Wochenendhaus. Mein Mann geht im Sommer schwimmen aufs Dach, ich mit den Nachbarinnen spazieren. Am Abend sitzen wir am Balkon."
Kein Widerspruch: luxuriös und günstig
Um zu gewährleisten, dass die Bewohner auch ihre Freizeit im Wohnpark verbringen und er nicht zur "Schlafstadt" verkommt, bietet Alterlaa eine außergewöhnliche Infrastruktur. Auf den Dächern der Wohnblöcke befinden sich Swimmingpools, im Bauch der Anlage Hallenbäder, Solarien, Saunen. Gemäß dem Motto "Luxus für alle" sollen die Angebote auch verbindend wirken. "Sie erfüllen die Möglichkeit zu Kommunikation und Kennenlernen auf Augenhöhe. Soziale Unterschiede lassen sich bei einer Begegnung in Badekleidung viel schwerer ablesen als in den meisten anderen Situationen. Diese ungezwungenen Kontakte sind offenbar auch einer der Gründe, warum die Hobbyräume und das Vereinsleben außerordentlich gut funktionieren", schreibt der Stadtforscher Christoph Laimer in einem Artikel über Alterlaa und Glück. Die Gemeinschaftsorte des Areals erfüllen die Funktion eines Kirchplatzes oder Dorfgasthauses. Für Glück war es wichtig, dass sich die Bewohner auch untereinander kennen und nicht isoliert in ihren Wohnungen hausen. Neben den Bädern gibt es Tennis- und Badmintonhallen, Sport- und Kinderspielplätze, Jugendzentren, 32 Klubräume, 3400 Garagen-Parkplätze, drei Kindergärten, vier Schulen und sogar eine Kirche.

Doch wie war einen derartiger Luxus im sozialen Wohnbau der 1970er Jahre möglich? Die Antwort auf diese Frage findet sich in der ökonomischen Bauweise des Architekten. "Glück arbeitet mit der Scheibenbauweise, deren tragende Elemente bis in die Grundfesten durchreichen. So benötigte er keine gesonderte Konstruktion für die Tiefgarage. Glücks klare Baukörper erlauben zudem ein direktes Führen aller Installationen vom Dachgeschoß bis in den Keller auf kürzestem Weg. Das erspart enorme Kosten", erklärt Reinhard Seiß. Das ersparte Geld floss in die aufwendige Infrastruktur der Bauten.
Dieser Innovationen zum Trotz, musste sich der Architekt während der Planung der heftigen Kritik angesehener Kollegen stellen. Größen der Branche, wie Friedrich Achleitner oder der Erbauer der Stadthalle, Roland Rainer, bemängelten die Wohntauglichkeit von Hochhäusern an sich. Für sie erfüllte lediglich das klassische Einfamilienhaus die menschlichen Wohnbedürfnisse. Menschen würden sich in großen Wohnkomplexen nicht wohlfühlen. Selbst das Finden der richtigen Türklingel stellten die Kritiker in Frage.
Harry Glück sollte sie eines Besseren belehren. Hier kam ihm seine große Erfahrung im Wohnbau zugute. Bereits 1962 bezogen Mieter seinen ersten mehrgeschoßigen Bau. Nach der Fertigstellung seiner Projekte informierte sich Glück bei den Bewohnern, "wie sie funktionieren und angenommen werden, um die daraus gewonnenen Erkenntnisse in seine nächsten Projekte mitzunehmen", schreibt Laimer. So entwickelte er seinen pragmatischen Stil in Opposition zu den teuren Bauten der Stararchitekten. Funktional, günstig und relativ wartungsfrei sollten seine Gebäude sein. Schlussendlich revidierte Friedrich Achleitner seine Bedenken über Alterlaa und bezeichnete sie 2014 als "bemerkenswert".
Eine Stadt am Rande der Stadt
Glück plante eine Stadt in der Stadt. Im an Block A angrenzenden Kaufpark florieren die Geschäfte. Vom Einzelhandel, über Möbel- und Gartengeschäfte, Banken bis hin zu Lokalen, Restaurants und Bäckereien, findet man alles. Anders als in den neuen Entwicklungsgebieten der Stadt, wie dem Sonnwendviertel beim Hauptbahnhof, sind hier die Erdgeschoßzonen belebt. Es gibt kaum Leerstände, der Branchenmix ist vielfältig. Auf einer Asphaltfläche spielt eine Horde Kinder Fußball. Sie lachen vergnügt, der Lärm hallt durch den Innenhof des Einkaufszentrums. "Geh Kinder, geht’s woanders hin", ruft die Angestellte einer Bäckerei. "Im Park ist doch genug Platz."
Die Grünflächen in der Großwohnsiedlung Alterlaa sind beträchtlich. In den 140 Meter breiten Lücken zwischen Wohnzeilen befinden sich weitläufige Parks. Sie wirken nicht bis ins letzte Detail durchgeplant und designt. Hinter dem letzten Block wächst wildes Buschwerk, auf einem Rodelhügel können sich die Kinder austoben. Glücks Konzept der Freiräume scheint sich bis in die Parkanlagen zu ziehen. Und verspüren die Alterlaaer doch einmal das Bedürfnis nach Gebäudedichte, Gründerzeit und prunkvoller Innenstadt, bringt sie die U-Bahn-Linie U6 in 20 Minuten hin. "Wir brauchen das Auto fast gar nicht mehr, höchstens im Urlaub und wenn wir etwas Schweres zu transportieren haben. Die Verkehrsanbindung ist ideal", sagt Brigitte.
Die hohen Standards der 1970er Jahre
Die Zufriedenheit der Bewohner spiegelt sich auch im Ergebnis der Wiener Gemeinderatswahl vom vergangenen Oktober wider. In allen Sprengel des Areals wurde die SPÖ mit weit über 40 Prozent der Stimmen mehr als bestätigt, während sie in den Stadtentwicklungsgebieten wie der viel gerühmten Seestadt Aspern deutliche Verluste einfuhr.
Vielleicht sollte man sich in Zeiten der wachsenden Bevölkerungszahlen und steigenden Mieten wieder auf die Lösungen und Methoden der 1970er Jahre besinnen. Zurück in die Zukunft, damit auch der heutige Wohnbau wieder die Standards der 1970er Jahre erreicht. Denn schließlich hat es ja schon einmal funktioniert, leistbares Wohnen mit hoher Wohnqualität und dem "Luxus für alle" zu kombinieren - ganz im Sinne des historischen Grundgedankens der Sozialdemokratie und des Roten Wien, mit seiner Kultur der Gemeindebauten.
Wenn die Wohnmaschinen in Alterlaa auf den ersten Blick auch "Ghetto" suggerieren, so täuscht diese Fernwahrnehmung. Die Bewohner fühlen sich auch nach 40 Jahren pudelwohl.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen